© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/15 / 27. November 2015

Der Regenbogen verblaßt
Südafrika und Brasilien: Multikulturelle Utopien scheitern im Realitätstest der Vielfaltsstaaten
Dirk Glaser

Als 1994 der Herrschaftswechsel von der weißen Minderheit zur schwarzen Mehrheit erfolgte, gab sich die neue Republik Südafrika eine Verfassung, die als Antwort auf das „Apartheidsregime“ den Bürgern unabhängig von Herkunft und Hautfarbe umfassenden Schutz vor Diskriminierungen gewährte. Gleichheit ist ihr Leitmotiv, und „Rassismus“ wird seit 1996 strafrechtlich geahndet. 

Mit dieser „Vision einer nichtrassistischen, multikulturellen und auf Menschenwürde basierenden neuen Gesellschaftsordnung“ habe sich Südafrika, wie die „freiberufliche Wissenschaftlerin“ Rita Schäfer in einem Themenheft der Zeitschrift des „Informationszentrums Dritte Welt“ (iz3w, Heft 5) resümiert, internationale Anerkennung verschafft. Und daher, so muß man hinzufügen, ist dieser von zahlreichen Ethnien getragene Staat zum Vorbild europäischer Prediger von „Einwanderung“ gereift, die den alten Kontinent mit Hilfe importierter afrikanisch-arabischer Unterschichten in eine „multikulturelle Freihandelszone“ (Thorsten Hinz) verwandeln wollen.

Wie Schäfers Rückblick auf die „Regenbogennation“ am Kap offenbart, gab es jedoch schon Ende der 1990er Jahre wenig Grund, das multikulturelle Gesellschaftsexperiment mit dem angeblich geglückten Großversuch in Südafrika zu legitimieren. Hinter der offiziellen, zur Fußballweltmeisterschaft 2010 kräftig aufpolierten Fassade harmonischer Buntheit bestimmen weiter der „Mikrokosmos der Apartheid“ und der „institutionalisierte Rassismus“ den südafrikanischen Alltag. Darin sieht Schäfer „tief verankerte Gewaltstrukturen“, die sie partiell als Erbe der weißen Herrschaft interpretiert. 

Vor allem in der Universität Stellenbosch, wo selbst die Architektur noch vom „selbstgerechten Anspruch der Apartheidplaner“ zeuge, werde in der weißen Studentenschaft die Ideologie der Rassentrennung kultiviert und tradiert – allem „Diversitymanagement“ und allen internationalen Austauschprogrammen zum Trotz. Allerdings muß auch Schäfer einräumen, daß dieser „Kulturnationalismus der Weißen“ als politische Größe inzwischen eine untergeordnete Rolle spielt. Die Gleichheitsgarantie der Verfassung unterhöhlen vielmehr die ethnisch grundierten sozialen Gegensätze in der schwarzen Mehrheitsgesellschaft.

Hierarchisierung der Ethnien besteht fort

Zuletzt offenbarte sich dieser Rassismus unter Schwarzen in den „unschönen Bildern“ des Frühjahrs 2015, als in Durban Zuwanderer aus Simbabwe Opfer von Gewaltexzessen und Plünderungen wurden. Wenig überzeugend tat die Regierungspartei diese bürgerkriegsähnlichen Zustände als „kriminelle Übergriffe“ einzelner Täter ab, wie schon im Mai 2008, als bei ähnlichen fremdenfeindlichen Ausschreitungen sechzig Menschen starben. 

In Durban, so erinnert Schäfer, seien aber keine Kriminellen auf den Plan getreten, sondern es habe sich eine „alte Fratze organisierter, gegen Ausländer hetzender“ Gewalt gezeigt, die des Zulu-Königs Goodwill Zwelithini. Die Zulu-Monarchie bleibe damit ihren alten rassistischen Überzeugungen treu, die Stammesangehörige etwa 1984 auslebten, als sie die indische Minderheit auf ihrem „Territorium“ attackierten. 

Die Regierungspartei ANC und der seit 2009 amtierende Präsident Jacob Zuma, ein Zulu, seien durchaus geneigt, solchen schwarzen Apartheids-Dispositionen Rechnung zu tragen. Angesichts struktureller Massenarbeitslosigkeit, der Wohnungsnot und einer korrupten Verwaltung ließen sich soziale Spannungen entschärfen, wenn man sie auf ethnische Gegensätze ableitet und „Sündenböcke“ für die Misere anbiete. In seiner polarisierenden, zwischen Inklusion und Exklusion changierenden „Sicherheitspolitik“ sehe der ANC ein probates Mittel, um sich in den 2016 anstehenden Lokalwahlen wieder die Mehrheit zu sichern.

Neben Südafrika ist Brasilien als „Paradies der Gleichberechtigung“ der zweite Hoffnungsträger europäischer Multikulturalisten. Eine Projektion, die für den Lateinamerika-Experten Simon Brüggemann mit den Realitäten des „vermischten“ Riesenstaates kollidiert. Allerdings werde dieses Selbstbild von friedlicher Koexistenz der Ethnien, der Rassismus als „nennenswertes Problem“  fremd sei, auch in der brasilianischen Öffentlichkeit erst seit kurzem hinterfragt. 

Brasilien habe einen 150 Jahre alten Prozeß der Selbstfindung hinter sich, der nicht abgeschlossen sei und der sich nie durch „rassendemokratische Harmonie“ auszeichnete. Erst in den dreißiger Jahren, unter dem autoritären Regime von Getúlio Vargas, dann modifiziert unter einer Militärjunta, die von 1964 bis 1985 diesen südamerikanischen „Schmelztiegel“ regierte, etablierte sich mit der Ideologie des „Mestizentums“ eine fragile Identität, die die Afrobrasilianer, die Abkömmlinge der von der portugiesischen Kolonialmacht ins Land geholten Sklaven, weitgehend ausgrenzte und die die Dezimierung der indigenen Völkerschaften am Amazonas ignorierte. 

Es dauerte bis zum 20. November 1995, als man erstmals einen „Tag des schwarzen Bewußtseins“ beging, der dann 2011 als Feiertag festgeschrieben wurde. Für Brüggemann änderte dies nichts an der „rassistischen Realität“ Brasiliens, die von rhetorischen Beschwörungen demokratischer „Vielfalt“ lediglich kaschiert werde. Die Telenovelas dominieren nach wie vor europäisch anmutende Idealfamilien, während Schwarze als Dienstboten oder Kriminelle figurieren. Schalte man den Ton ab, könne dieser Teil des TV-Programms glatt als schwedisches Fernsehen durchgehen. Insofern spiegele sich auf der Mattscheibe die Orientierung an „weißen“ Normen und „rassistischen Stereotypen“ ungefiltert wider. Unbeabsichtigt dokumentiere das Fernsehen damit die fortbestehende „Hierarchisierung der Ethnien“, wie sie sich in der sozialen Benachteiligung vor allem der Afrobrasilianer ausdrücke, in den Gefängnissen, die überproportional mit Schwarzen gefüllt sind, oder im „rassistischen Agieren“ von Polizei und Justiz.  

Die Multikulti-Gesellschaft ist im Zweifel unsolidarisch

Was sich in Südafrika und Brasilien im großen Maßstab zeigt, wiederholt sich in kleiner dimensionierten multiethnischen Gesellschaften wie in Malaysia, wo die Spannungen zwischen der malaiischen und chinesischen Bevölkerung bisher die Entstehung einer „geeinten malaysischen Nation“ verhinderten. Und selbst wo die Minderheit so winzig ist wie die der chinesischen Geschäftsleute, die sich im Zuge der neuen chinesisch-namibischen Wirtschaftsallianz im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika niederließen, richten sich die Aggressionen der von Armut und Arbeitslosigkeit gebeutelten Mehrheitsbevölkerung regelmäßig gegen die aus ihrer Sicht zu Unrecht begünstigten Fremden.

Alle Beiträger des Themenheftes zum „Rassismus im globalen Süden“ sprechen den für Multikulturalisten überaus peinlichen Tatbestand offen an, versuchen aber ethnische Spannungen als Epiphänome sozialer Gegensätze zu verharmlosen. Dem widerspricht eine gesicherte sozialwissenschaftliche Erkenntnis, an die vor dem Hintergrund aktueller deutscher Debatten um „Asyl“, „Einwanderung“ und „kulturelle Vielfalt“ kürzlich der  Wirtschaftsjournalist Olaf Gersemann erinnerte (Welt am Sonntag, 8. November 2015): Nur ethnisch „relativ homogene Bevölkerungen“ generieren die Solidarität, die nötig ist, um einen Sozialstaat aufzubauen. Deutschland und Schweden hätten daher diesen Weg einstmals gehen können, die USA, als Vorbild aller Einwanderungsnationen, nicht, weil sie wie jede „Multikulti-Gesellschaft im Zweifel eine unsolidarische“ sei.