© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/15 / 27. November 2015

„Ich war der Sterblichkeit entflogen“
Hörbuch: Thomas Thieme liest den „Spaziergang nach Syrakus“ von Johann Gottfried Seume
Hans-Bernhard Wuermeling

Mit seinem „Spaziergang nach Sy-rakus im Jahre 1802“ hat sich der Schriftsteller Johann Gottfried Seume unvergeßlich in die deutsche Literatur eingeschrieben. Jetzt liegt dieser Reisebericht auch als Audiobuch vor, gelesen von dem Schauspieler Thomas Thieme. Damit läßt sich dieser klassisch gewordene Text der deutschen Romantik nun auch bequem anhören. Und das lohnt sich: Seume, ein Atheist und Kirchenhasser, zelebrierte seine Fußreise in den Süden Siziliens nach Syrakus wie eine Wallfahrt; seine einzig an ihm wahrnehmbare Frömmigkeit ließ ihn alles Schöne bewundern, Landschaften, Skulpturen, Theateraufführungen und Musik. In dieser fast religiösen Aufgeschlossenheit für Natur und Kultur könnte er Vorbild auch für uns Heutige  sein.

 1763 geboren, war Seume als achtzehnjähriger Leipziger Theologiestudent von dem Landgrafen von Hessen-Kassel als Soldat an die Engländer verkauft und nach Amerika verschifft worden. Nach dem Rücktransport wurde er in die preußische Armee gezwungen, aus der er mehrfach zu fliehen versuchte. Endlich konnte er 1789 bis 1792 in Leipzig Philosophie, Philologie und Geschichte studieren. Als hochgebildeter und weitgereister Achtunddreißigjähriger entschloß er sich dann im Dezember 1801 zu der Fußreise nach Syrakus. Auch diese sei, sagen Seume-Interpreten, eine Flucht gewesen: aus einem gesellschaftlichen Zwangssystem, das ihm verbot, die von ihm geliebte Frau zu heiraten.

Dem Selfie von heute nicht unähnlich

Seumes Reisebericht erschien in Briefform und damit in einem literarischen Genre, das durch keinen roten Faden gehindert wird, locker zwischen Betrachtungen, Gesprächen, Landschaftsschilderungen, literarischen Anspielungen und sogar Gedichten frei zu wechseln. Auf diese Weise entwirft der Autor ein buntes Bild von sich auf seiner Reise, dem fotografischen Selfie von heute nicht unähnlich, das alles Gesehene und Erlebte ganz mit dem Ich, also subjektiv, in Beziehung setzt.

Als Ereignis am Rande sei der Besuch Seumes bei einem Ministerialen in Wien

erwähnt, von dem man das Visum für Italien untertänigst zu erbitten hatte. Mit „Was will er?“ wird der Bittsteller im Wiener Dialekt von oben herab angefahren. Das kann man vergnüglich lesen, aber noch besser ist es, das zu hören. 

Dennoch, ein Hörbuch ist kein Hörspiel. Es gibt, ohne zu dramatisieren, einen geschriebenen Text wieder, der unaufdringlich und wie leichthin vorgelesen werden kann. Das gelingt Thomas Thieme in seinem Hörbuch vortrefflich. Er stellt keine Interpretationsversuche an, sondern gibt getreu wieder, was Seume geschrieben hat. Dessen Sprache, die heute rührend altertümlich klingt, ist die seiner Zeit, der Romantik: „Wenn man nicht mit der Extrapost fährt, sondern zu Fuß trotzig vor sich hinstapelt, muß man sich oft huronisch behelfen.“ Die Huronen sind ein nordamerikanischer Indianerstamm.

Mit neun Talern tritt Seume die 6.000 Kilometer lange Reise von Grimma bei Leipzig nach Syrakus an. In seinem Tornister führt er eine Bibliothek der klassischen griechischen und römischen Autoren mit, die er häufig liest und zitiert. In Triest wohnt er in dem Haus, in dem Johann Joachim Winckelmann ermordet wurde, der berühmte Wiederentdecker der Antike. Den Petersdom in Rom erwähnt er nicht, aber die marmorne Hebe von Canova (jetzt im Louvre) begeistert ihn so sehr, daß er zu dichten beginnt: „Ich stand vom süßen Rausche trunken, / Wie in ein Meer von Seligkeit versunken, / Mit Ehrfurcht vor der Göttin da, / Die hold auf mich herunter sah. / (…) / Ich war der Sterblichkeit entflogen, / Und meine Feuerblicke sogen / Aus ihrem Blick Ambrosia.“

Geradezu schwärmerisch beschreibt er bei Neapel die Aussicht von der Terrasse des Kamaldulenserklosters auf den Vesuv über Herculaneum und Pompeji, Sorrent, Capri und Ischia. Wer ihn einmal verloren glaube, solle ihn an dieser Stelle bei den Kamaldulensern suchen. Auffallend wenig berichtet er von Syrakus, dem Ziel seiner Reise

Ein herausragendes Erlebnis bleibt es aber allemal, Seumes Reisebericht, locker und unprätentiös vorgetragen, als Hörbuch genießen zu können.

Johann Gottfried Seume Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Ungekürzte Lesung mit Thomas Thieme, MP3-CD, Audio-Verlag, 2015, Laufzeit: 435 Minuten, 10 Euro