© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/15 / 27. November 2015

Das Widerständige hat es schwer
Gerhard-Löwenthal-Preis für Publizisten: Auszug aus der Dankesrede von Ehrenpreisträger Heimo Schwilk
Heimo Schwilk

In der deutschen Geschichte hatte und hat es das Widerständige schwer. Der Deutsche will dazugehören, mitlaufen, denn Widerspruch grenzt aus, ist mit Risiken verbunden. Der Normaldeutsche liebt die Sicherheit. Und den mit ihr zutiefst verbundenen Moralismus, weil er jede Handlung mit den möglichen Folgen konfrontiert und so der konkreten Verantwortung durch allerlei Rücksichtnahmen zu entgehen sucht: auf die sogenannte Gesellschaft, die Nachbarvölker, die Umwelt. Von Tacitus über Madame de Staël bis zu Nietzsche reicht die Phalanx der Kritiker, die die eigentümlich deutsche Moralbeflissenheit beklagen, die im Grunde Ausdruck einer gestörten Selbstachtung ist. Gut und stark sind immer nur die anderen! Deshalb auch die seltsame Bewunderung für alles Fremde und die Geringschätzung des Eigenen. Von Ernst Jünger stammt der Satz, der Deutsche neige zu einer zögerlichen Haltung des Sowohl-Als-auch, der Franzose zum entschiedenen Entweder-Oder. Heinrich Heine drückte das sinnlicher aus: Die einen tränken Bier, die anderen Champagner.

Daß uns das Prickelnde fehlt, fällt leicht ins Auge, wenn wir uns die Auftritte unserer Bundeskanzlerin vor Augen führen. Statt Entschiedenheit herrscht einschläfernde Trägheit, die erst einmal beobachtet und abschätzt, wohin der Hase läuft, um dann zu rufen: „Ick bün allhier!“Angela Merkel schläft jedoch nicht, niemals, hinter der Fassade demonstrativer Gelassenheit lauert eine hellwache Sprungbereitschaft, um, wenn der Augenblick gekommen ist, blitzartig auf den Zeitgeist aufzuspringen, wie ihn die herrschenden Medien verkörpern. Diese Bundeskanzlerin hat keine Strategie, keinen Plan, sondern Instinkt. Sie entscheidet sich zumeist für das Opportune, niemals für das Riskante. Falls sie einmal doch Widerständigkeit zeigt, was ihrem innersten Wesen widerspricht, dann gegenüber den Erwartungen des eigenen Volkes. Oder der eigenen Partei, der sie ihren Aufstieg verdankt und die sie seit ihrer Herrschaft als Parteivorsitzende bis zur Unkenntlichkeit verändert hat. Die für Angela Merkel verbindliche Autorität in der Bundesrepublik – bezeichnenderweise begann sie ihre Politikerkarriere als Pressesprecherin – ist die sogenannte vierte Gewalt: die Medien und ihr alles beherrschender Humanitarismus, der keine Staatsräson kennt.

Unsere Bundeskanzlerin hat ein feines Gespür dafür, mit welchen Autoritäten man sich keinesfalls anlegt. Zu DDR-Zeiten war sie nicht nur eine Mitläuferin, sondern auch Aktivistin im Dienst des Sozialismus, dessen Ideologie sie als FDJ-Funktionärin für Agitation und Propaganda offensiv vertrat. Angela Merkel gehörte zur systemkonformen Wissenschaftselite der DDR, sie war ehrgeizig, aber auch in höchstem Maße angepaßt. Daß sie lange vor dem Mauerfall ins „nichtsozialistische Ausland“ reisen durfte, also zum privilegierten „Reisekader“ gehörte, wird von den zahlreichen Merkel-Claqueuren regelmäßig unterschlagen. Und daß von der Physikerin nach der Rückkehr detaillierte Berichte erwartet wurden, über ihre Begegnungen mit West-Wissenschaftlern, das Verhalten der Mitreisenden etc., hat auch keinen Eingang in ihren Lebenslauf gefunden. „Man weiß über 35 Jahre meines Lebens kaum etwas“, notierte sie einmal süffisant. Dank der Bücher von Hinrich Rohbohm und Ralf Georg Reuth wissen wir heute – wenn  wir es denn wissen wollen – vieles über den habituellen Opportunismus einer Karrierepolitikern, die gern als die „mächtigste Frau der Welt“ bezeichnet wird. Angela Merkel nutzt ihre Macht aber nicht, um die Interessen ihres Landes zu vertreten oder Schaden von ihm abzuwenden, sondern allein, um ihre eigene Macht zu sichern.

So erklären sich auch die überraschenden Kehrtwenden in ihrem Amt als Bundeskanzlerin. Hatte Angela Merkel 2003 auf dem Leipziger CDU-Bundesparteitag und in der Absicht, mit der FDP eine Regierungskoalition zu bilden, eine neoliberale Agenda entwickelt, so realisierte sie zwölf Jahre später mit der SPD den lange heftig bekämpften Mindestlohn. Und wurde 2010 in einem parlamentarischen Kraftakt die Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke beschlossen, so verkehrte sie diese Entscheidung nach dem Reaktorunglück in Fukushima schon ein Jahr später in ihr Gegenteil, mißachtete fundamentale Eigentumsrechte der betroffenen Unternehmen und führte ihr Land in das andauernde Energiechaos. Im Verlauf der Griechenland-Krise ignorierte sie die No-Bail-Out-Klausel des Maastrichter Vertrages, um die Geldgeber der Griechen, die europäischen Banken, zu retten.

Als ähnlich verhängnisvoll wie das aktuelle Mantra „Wir schaffen das“ erwies sich der Merkel-Satz „Scheitert der Euro, scheitert Europa“ – formuliert nach einem halben Jahrhundert europäischen Wohlstands und Friedens, wohlgemerkt ohne  Einheitswährung! Der Euro führt dieses vereinte Europa inzwischen auf verhängnisvolle, aber längst vorhersehbare Weise in eine dramatische Phase der Renationalisierung und des ökonomischen Niedergangs.

Warum benenne ich diese Bilanz der Unberechenbarkeit und Inkonsequenz? Was ist das geheime Zentrum dieser Politik der Anpassung? Ich denke, daß bei Angela Merkel neben einer gemüthaften Anlage zur Unauffälligkeit ein ausgeprägtes Autoritätsbedürfnis mitschwingt, eine sehr deutsche Sehnsucht nach Konsens, Gemeinschaft, Sicherheit. Befriedigte zu DDR-Zeiten die SED diese Sicherheit, zumindest für überzeugte Sozialisten wie Angela Merkel, die an ihrer Alleinherrschaft keinen Anstoß nahmen, so bietet ihr nun das mediale Kartell der Gesinnungsethiker jene ideologische Geborgenheit, mit der sie in der DDR sozialisiert worden ist.

Der Unterwerfungsgestus ist unübersehbar: Man erinnere sich nur, wie es zum fatalen Satz „Wir schaffen das“, ausgesprochen am 31. August bei der Bundespressekonferenz in Berlin, überhaupt gekommen ist. Vier Wochen lang hatten die Medien die Bundeskanzlerin gedrängt, ja getrieben, sich zum Flüchtlingsproblem in einer öffentlichen Rede zu äußern, sie aufgefordert, Aufnahmelager zu besuchen, ihre Solidarität mit den Flüchtlingen zu erklären und „rechter“ Hetze entgegenzutreten. Wohl wissend, daß dies ein Drahtseilakt werden würde wegen der wachsenden Irritation im Land, vermied sie lange diese abgepreßte Stellungnahme. Als der mediale Druck übermächtig wurde, knickte Angela Merkel ein und preschte in der ihr gemäßen Art sogleich nach vorn, alles überbietend, was von ihr gefordert wurde. Es entstanden die verhängnisvollen Selfies, es wurde die Grenzenlosigkeit des Asyls beschworen, Deutschland zum Hafen für alle Verfolgten der Welt erklärt. Angela Merkel hatte die von ihr selbst im tiefsten Inneren gewünschte, nur in Rücksicht auf ihre eigene Partei um einige Wochen verzögerte Unterwerfung endlich vollzogen! Ihr glücklich-verschämtes Lächeln in den Tagen nach dem Befreiungsschlag spiegelt diese seelische Triebabfuhr.

Nach der Erfahrung dieses katastrophalen Sommers lesen wir heute Botho Strauss’ legendären Essay „Anschwellender Bocksgesang“ mit neuen, erschreckten Augen: Dort nennt er die bundesdeutschen Medien, auch aus eigener Erfahrung, ein „Regime der telekratischen Öffentlichkeit“ und erklärt provozierend, dieses mediale Regime sei „die unblutigste Gewaltherrschaft und zugleich der umfassendste Totalitarismus der Geschichte. Es braucht keine Köpfe rollen lassen, es macht sie überflüssig.“

Meine Damen und Herren, wir alle spüren, wie sehr die aktuelle Politik dieser Bundesregierung alle Maßstäbe sprengt – und wir wissen auch, daß sie sich um so katastrophaler auswirkt, weil ihr kein Korrektiv entgegensteht. Wo sind die Journalisten und Publizisten, Schriftsteller und Intellektuellen, die den erlösenden Ruf wagen: „Die Kanzlerin ist nackt!“, mit der sie Merkels humanitäre Phraseologie als das entlarven, was sie ist: Realitätsverleugnung um den Preis unserer aller Zukunft! Wer in ihrem Kabinett organisiert den Widerstand, damit die Grenzen endlich geschlossen werden, um das Einsickern von Terroristen zu verhindern? Wer stoppt die Flüchtlingslawine, die über Deutschland und Europa niedergeht und in nicht so ferner Zukunft zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen wird? Der eben verstorbene Helmut Schmidt – als Bundeskanzler hatte er die mörderische RAF mit Entschiedenheit bekämpft und am Ende besiegt – ist die eigentliche Gegenfigur zur zögerlichen, nur auf das eigene politische Überleben bedachten Angela Merkel. Schmidt hatte übrigens in der ersten großen Asyldebatte 1992 „grenznahe Lager“ für Asylbewerber gefordert, um sofort abschieben zu können.

In der Stunde der Not sollten wir uns auf eine bewährte Quelle der Ethik besinnen, um zu begreifen, mit welcher Verblendung im Zeichen des Multikulturalismus das deutsche Volk in den Abgrund geführt wird. Im zweiten Buch seiner „Nikomachischen Ethik“ formuliert Aristoteles, der Denker des Maßes und der Mitte, ein Plädoyer für die Grenze und das Begrenzte, denn „das Schlechte gehört auf die Seite des Unbegrenzten, das Gute auf die des Begrenzten.“ Wer Grenzen mißachte, äußere und innere, aber auch die der Selbstüberforderung, beweise seine „sittliche Minderwertigkeit“. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Foto: Festakt in der Zitadelle Spandau: Dieter Stein begrüßte 250 Gäste aus Politik, Medien, Wirtschaft und Wissenschaft, die am Wochenende nach Berlin kamen, um die Verleihung des Gerhard-Löwenthal-Preises zu erleben