© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/15 / 20. November 2015

„Ich gehöre zur Romantik hin“
Ein Tagungsband zum Kultur-Zionisten Gershom Scholem definiert den Forschungsstand neu
Thomas Kuzias

Vom Standpunkt der bundesrepublikanisch-linksliberalen Weltsicht ist der Kabbalaforscher, jüdische Mystiker und Romantiker Gershom Scholem („Ich bin Nationalist.“) eine eher sperrige Figur der deutsch-jüdischen Tragödie des 20. Jahrhunderts. Kenner indes wissen, daß Scholems Lebens-, Denk- und Forschungswege (1897–1982) in vielfältigen, äußerst interessanten Beziehungen zu fast allen wichtigen Fragestellungen der lange noch nicht abgeschlossenen Diskussion zu ebendieser Tragödie stehen, ganz zu schweigen von seiner herausragenden Bedeutung für die Religionswissenschaft überhaupt oder die jüdische Identitätssuche im besonderen. 

Nun liegt ein Sammelband vor, der die Beiträge einer Tagung des Institutum Judaicum (Tübingen) aus dem Jahre 2012 vereint, deren Erträge vor allem die tiefe geistige wie emotional ambivalente Verwurzelung Scholems in der deutschen Kultur erweisen. Daß seine Berliner Mundart aus jeder Sprache, der Scholem sich auch bedienen mochte, stets herausklang, mag dafür Indiz sein.

„Das deutsche Judentum war geistige Elite der Nation“

Die Beiträge von Gerold Necker, Bill Rebinger und Saverio Campanini widmen sich verschiedenen Aspekten von Scholems Lebens- und Bildungsstationen; besonders erhellend ist ein zweiter Aufsatz des Hallenser Judaisten Necker, der die ästhetischen, messianischen und zionistischen Bezüge von Scholems Hölderlin-Verehrung aufdeckt. „Die Beschäftigung mit Nietzsche, oder mit Hölderlin“ – so meinten junge zionistische Intellektuelle seinerzeit – „vermag uns stärker zu Juden zu machen, als die erzwungene Rückkehr zu einem Ritual, an dessen Sinn wir nicht mehr glauben.“ 

Klaus Herrmann stellt Scholem in den Zusammenhang mit der „Neuen Mystik“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Noam Zadoff verfolgt das sich im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozeß zerrüttende Verhältnis von Scholem und Hannah Arendt. Matthias Morgenstern stellt den Briefwechsel Scholems mit dem evangelischen Theologen Otto Michel, einem ehemaligen NSDAP- und SA-Mitglied, bereit. Elke Morlok und Frederek Musall gehen in ihrem Aufsatz der Freundschaft Scholems mit Walter Benjamin nach, an dessen Engagement für Kommunismus und Marxismus Scholem unendlich litt und das er am liebsten geleugnet hätte. Geriet doch schon mit dieser Naherfahrung sein ideales Bild der deutsch-jüdischen Begegnung in Gefahr, von der er meinte: „Das deutsche Judentum war eben die geistige Elite der Nation (…) und man kann schon heute sehen, daß Hitler Deutschland tatsächlich für immer ruiniert hat. (…) Mit einem Wort, die Juden sind ein integrierender Bestandteil der sogenannten europäisch-christlichen Kultur und bleiben es, wobei die inneren Differenzen unter den Schülern von Hess und (…) Marx sich als zweitrangig erweisen.“ 

Jonatan Meir, Patrick B. Koch und Amir Engel beschäftigen sich in ihren Beiträgen mit Scholems Arbeiten zur Kabbala, und vor allem Engels luziden, den geistesgeschichtlichen Schwerpunkt des Tagungsbandes bildenden Beitrag zur Prägung Scholems durch den romantischen Symbolbegriff („Ich gehöre zur Romantik hin“) gilt es hervorzuheben.

Den Band beschließt ein leider nur in Auszügen mitgeteiltes Interview der linken Journalistin Sabine Berghahn mit Scholem und seiner Frau vom April 1979 in Jerusalem (im Herbst gleichen Jahres vom Hessischen Rundfunk gesendet), das an der im Untertitel des Bandes behaupteten „Sprachlosigkeit“ Scholems durchaus Zweifel aufkommen läßt. Den diese editorische Zugabe dokumentierenden Konflikt zweier Wertesysteme – Konservatismus versus Linksideologie der westdeutschen 68er Generation – versuchen die Herausgeber etwas zu entschärfen, indem sie Scholems klare Aussagen als bloße Betroffenheitsreaktion oder als „mit Ironie gewürzte Strenge“ bewerten. Doch davon kann keine Rede sein. Ausgehend von der Leidens- und Verfolgungsgeschichte der deutschen und europäischen Juden gelangte das Gespräch alsbald bei den Ursachen für die nationalsozialistische Machtergreifung an, für die Scholem Kommunisten und Sozialisten gleichermaßen („Sünden der Linken“) verantwortlich machte. 

„Die Sozialisten haben total versagt in Deutschland“

Die naiv-neudeutsche Art der Fragestellerin trieb das Gespräch weiter voran, so daß Scholem schließlich den einseitig moralisierenden Faschismusbegriff ad absurdum führte: „Ich bestreite ganz entschieden, daß das Gerede vom Faschismus einen Sinn hat, wenn man nicht im selben Moment die Katastrophen des Sozialismus analysiert.“ Dann ging es Schlag auf Schlag: Das falsche Menschenbild der Linken, die Absurdität der Rede von der Entfremdung, die Unmöglichkeit antiautoritärer Erziehung, die verlogene Glorifizierungen der Neuen Linken – alles kam zur Sprache. Und schließlich: „Die Sozialisten haben ja total versagt in Deutschland, zum Teil weil sie zuviel jüdische Kritik hatten.“

Noch fünfunddreißig Jahre später lobt Berghahn Scholems Urteilskraft und gibt als „Langzeiterkenntnis“ heute immerhin zu Protokoll: „Insbesondere hat sich in mir die Neigung abgebaut, dauernd Vergleiche mit der Nazizeit zu ziehen.“ – Überhaupt weist dieses Interview in die Zukunft, denn die noch zu führende Diskussion zwischen Gershom Scholem und Ernst Nolte wird eine überaus fruchtbare sein.

Gerold Necker, Elke Morlok, Mat-thias Morgenstern (Hrsg.): Gershom Scholem in Deutschland. Zwischen Seelenverwandtschaft und Sprachlosigkeit, Mohr Siebeck, Tübingen 2014, gebunden, 302 Seiten, 39 Euro