© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/15 / 13. November 2015

Mehr Staat als Rezept
Der Vordenker des modernen Sozialstaates: Zum 200. Geburtstag Lorenz von Steins
Eckhard Sturz

Otto von Bismarck und Karl Marx, Richard Wagner und Jacob Burckhardt – Gestalten, die das 19. Jahrhundert prägen sollten, werden um 1815 fast im Wochentakt geboren. 

Zu diesem Aspiranten für Walhall steuern selbst die eher abseits vom Weltgeschehen gelegenen, damals noch zum dänischen Gesamtstaat gehörenden Herzogtümer Schleswig und Holstein samt der Hansestadt Lübeck eine überraschend stattliche Zahl von Sternen erster bis dritter Ordnung bei: Friedrich Hebbel (1813), Georg Waitz (1813), Ernst Curtius (1814), Emanuel Geibel (1815), Karl Steffensen (1816), Theodor Mommsen (1817), Theodor Storm (1817) und Klaus Groth (1819). 

Den Dithmarscher Tagelöhner-Sohn Hebbel ausgenommen, standen freilich die Chancen, in die deutsche Geisteselite aufzusteigen, bei niemandem in dieser Alterskohorte so schlecht wie bei dem am 15. November 1815 in Eckernförde unehelich geborenen Lorenz Stein, der 1890 in Wien als europäische Berühmtheit, als der über weltweite Beziehungen verfügende, mit Orden und Auszeichnungen überhäufte Professor Ritter von Stein starb.

Stein entstammte der Beziehung Anna Elisabeth Steins, einer „in Dürftigkeit“ von ihrem Mann, einem sächsischen Sergeanten, verlassenen Frau aus dem Eckernförder Kleinbürgertum, mit dem in der Ostseestadt stationierten Major Lorenz Jacob von Wasmer. Den angesichts kümmerlichster Verhältnisse besten Dienst, den der Vater seinem Sprößling leisten konnte, war die Unterbringung im örtlichen Christians-Pflegeheim, einer Erziehungsanstalt für Soldatenkinder und Militärwaisen.

In Paris als Agent gegen die geflohenen „Demagogen“ 

Bis zur Konfirmation in harte Zucht genommen, waren die Zöglinge bestimmt für eine Handwerkerlehre und anschließenden achtjährigem soldatischen Pflichtdienst. Ein Schicksal, das Stein durch glückliche Fügung erspart blieb. Dank eines königlichen Stipendiums durfte er die Flensburger Gelehrtenschule besuchen, die er 1835 mit dem Reifezeugnis verließ, um in Kiel Rechtswissenschaft zu studieren. Wiederum durch Stipendien gefördert, bestand der so mittellose wie hochbegabte Student 1839 das juristische Examen mit dem sehr seltenen „1. Charakter“ und promovierte 1840 mit einer Dissertation über den dänischen Zivilprozeß. 

Während der Kopenhagener Vorbereitungszeit entschied sich Stein aber gegen die Karriere als Verwaltungsjurist und für die Wissenschaft, die er, abermals bezahlt aus königlicher Schatulle, in ihrem Zentrum, der noch ganz vom Geist des preußischen Staatsphilosophen Hegel geprägten Berliner Universität aufsuchte. Mit Plänen zu einer Darstellung der französischen Staats- und Rechtsgeschichte sowie der vagen Vorstellung, im politisch gärenden, ökonomisch fortschrittlicheren Paris über die Beziehungen von Recht, Staat und Gesellschaft mehr lernen zu können als im biedermeierlichen Berlin, begab sich Stein im Herbst 1841 an die Seine, wo er bis 1843 blieb. Versehen nicht allein mit dem selbstgewählten Arbeitsprogramm, das ihn intensive persönliche Kontakte zu Theoretikern des Frühsozialismus anknüpfen ließ, sondern mit einem der Forschung lange verborgen gebliebenen geheimen Auftrag der preußischen Staatsregierung. 

Ihr sollte der Agent Stein sowohl über das revolutionäre Potential der frühsozialistischen Intellektuellenszene wie über jene deutschen Emigranten berichten, die sich der „Demagogenverfolgung“ jenseits des Rheins entzogen hatten und die sich in Geheimzirkeln wie dem „Bund der Geächteten“ darauf vorbereiteten, Mitteleuropa zu revolutionieren. 

Obwohl Stein tatsächlich fleißig die Bibliothek besuchte und 1846 seine voluminöse Geschichte des französischen Straf- und Prozeßrechts vorlegte, war es eine politische Feldstudie als Frucht des Pariser Aufenthalts, die ihm schlagartig einen „europäischen Namen“ (Gustav von Schmoller) eintrug und die zum „Markstein in der politischen Theorie des 19. Jahrhunderts“ (Dirk Blasius) und gar, im abfälligen Urteil des „reaktionären“ Kieler Correspondenten von 1851, zur „Geburtsstunde der Demokratie“ avancierte. Gemeint ist die als „Beitrag zur Zeitgeschichte“ untertitelte Untersuchung über den „Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs“ (1842), die Stein bis 1850 zu einer dreibändigen Monographie „Die Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage“ (1850) ausbaute. 

Vordenker des Prinzips staatlicher Daseinsvorsorge

Was immer Stein, der aufgrund seines Engagements während des gewaltsamen Versuchs, Schleswig-Holstein von Dänemark zu lösen, 1855 von Kiel nach Wien wechseln mußte, unter dem Doppeladler an Lehrbüchern zur Finanzwissenschaft, Nationalökonomie und Verwaltungslehre noch publizieren sollte – kein anderes als dieses Jugendwerk sichert ihm den Rang als der neben Hegel und Marx bedeutendste Diagnostiker des bürgerlichen und industriellen Zeitalters.

Stein legte anhand der französischen Geschichte seit 1789 die Grundwidersprüche der sich entwickelnden kapitalistischen Gesellschaft frei und nahm damit wesentliche Einsichten der marxistischen Theorie vorweg. So sehr aber Stein und Marx in der Diagnose der Antagonismen von Kapital und Arbeit, besitzender und nichtbesitzender Klasse, Bourgeoisie und Proletariat übereinstimmten, so unvereinbar waren ihre Positionen als sozialpolitische Therapeuten. Denn Stein teilte Marx‘ Utopismus nicht, die der Klassengesellschaft inhärenten Gegensätze trieben zur Weltrevolution, die dann durch gerechtere Güterverteilung und durch den Wegfall der „Zwangsanstalt“ Staat das Ende aller Ungleichheit heraufführen werde.

Für Stein, lebenslang ein nicht unkritischer Bewunderer der aus den Reformen von 1807/08 wiedererstandenen preußischen Verwaltungsorganisation, konnte allein der Staat die sich in der „sozialen Frage“ ankündigenden, auf Kriege und Bürgerkriege hinauslaufenden Herausforderungen moderner Industriegesellschaften bestehen. Der Staat, für Stein nicht wie für Marx lediglich Instrument der Klassenherrschaft, garantierte ihm Klassen- und Interessenneutralität. Nur eine sozialkonservative Staatsgewalt, die sich hegelianisch als Wahrer des Allgemeinwohls behaupte und im Pluralismus der Interessen sich nicht einer Partei gefügig mache, weil sie „für alle thätig sein will und thätig ist“, bringe die Kraft auf, die proletarischen Massen in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren. Dafür müsse der Staat eine effiziente Leistungsverwaltung aufbauen, eine „Daseinsvorsorge“, wie der von Stein inspirierte Ernst Forsthoff dieses Konzept 1938 taufte. Folglich pries Stein, der monarchistische „Vordenker des modernen Sozialstaates“ (Ernst Wolfgang Böckenförde), Bismarcks Sozialgesetzgebung, die der Sozialdemokratie die Wählerbasis entziehen sollte, als konsequente Umsetzung seiner dreißig Jahre zuvor propagierten Idee des „sozialen Königtums“.

Foto: Bronzerelief des Lorenz von Stein am Geburtshaus in Eckernförde: Nur eine sozialkonservative Staatsgewalt bringt die Kraft auf, die proletarischen Massen in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren