© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/15 / 13. November 2015

„Sie ist immer noch bei uns“
Wenn plötzlich das Kind stirbt: Wie ein Ehepaar mit dem Verlust seiner Tochter umgeht
Elena Hickman

Der Anruf kam mitten in der Nacht. Trotz starkem spanischen Akzent waren die Worte brutal unmißverständlich: Ihre Tochter ist tot. Genevieve Kuske starb 2009 im Alter von 19 Jahren an einem Allergieschock. Auf ihrer Abschlußfahrt in Spanien dachte Genevieve, sie würde ein Vanilleeis essen. Stattdessen erlitt sie durch die Walnüsse im Eis einen anaphylaktischen Schock.

Der erste Anruf am Mittwoch abend klang noch nicht so besorgniserregend, erinnert sich Genevieves Mutter, Tatjana Kuske. Eine Freundin ihrer Tochter erklärte ihr, daß Genevieve mit einem Asthmaanfall in die Klinik eingeliefert worden sei. Aber die folgenden Anrufe aus dem Krankenhaus wurden immer besorgniserregender, bis die Eltern schließlich nachts um halb drei nur noch die Todesnachricht erreichte. „Und der Arzt, der sie behandelt hatte, hieß auch noch Jesus“, fügt Dieter Kuske mit einem Kopfschütteln hinzu.

Sie flogen nach Spanien, wo sie im Krankenhaus nicht nur mit Sprachproblemen zu kämpfen hatten. „Das erste, was wir gefragt wurden war: ‘Wie möchten Sie zahlen – bar oder mit Kreditkarte?’“ erzählt Dieter Kuske. Und kurz darauf dann die Frage, ob die Ärzte Genevieves Organe entnehmen könnten. Aber irgendwann durften sie endlich ihre Tochter sehen. „Das war brutal“, gesteht der Vater. „Bis zur letzten Minute hoffst du, daß es nicht dein Kind ist“, erklärt Tatjana Kuske. Aber es sei für sie wichtig gewesen, ihr Kind noch einmal zu sehen, sagt Dieter Kuske.

„Die Zeit heilt die Wunden nicht, sie verändert sie“

Es dauerte Wochen, bis Genevieves Körper nach Deutschland überführt werden konnte und endlich die Beerdigung stattfand. Kuske: „Man bekommt eine internationale Sterbeurkunde – die ist hier in Deutschland nicht gültig.“ Aber eine Beerdigung heißt nicht unbedingt Abschied nehmen, denn „Abschied genommen haben wir bis heute nicht richtig“, sagt Genevieves Vater, „sie ist doch immer noch bei uns“. Natürlich wisse er, daß sie nie mehr wiederkomme, aber ein Teil von ihr sei immer noch bei ihnen. „Ich trage sie im Herzen“, erklärt Dieter Kuske schlicht, während er an seinem Eßtisch sitzt. In der Ecke steht eine Buddha-Figur, in einer Bodenvase eine große Kerze mit der Jahreszahl 2009. Von seinem Platz aus kann er im Wohnzimmer auf ein großes Bild von Genevieve schauen.

Wenn die beiden gefragt werden, wie viele Kinder sie haben, antworten sie: „Zwei. Unseren Sohn – der Ältere und verheiratet – und unsere Tochter, die verstorben ist“, sagt Tatjana Kuske. „Wer ein Kind verliert, hat ja Liebe für dieses Kind, und die hört nicht auf, wenn das Kind stirbt“, erklärt sie. Das Eltern-Sein verschwinde nicht einfach. Es gebe keinen Statuswechsel, wie beispielsweise bei einer Frau, die zur Witwe wird, oder Kindern, die plötzlich Waisen sind. „Der Partner geht von der Seite“, versucht die Mutter zu erklären, „das Kind geht aus dem Herzen.“

Und was passiert nach der Beerdigung? Ein Zurückkehren zum gewohnten Alltag ist kaum vorstellbar. „Es ist nichts mehr so, wie es mal war“, sagt Tatjana Kuske, und ihr Mann ergänzt: „Man fragt sich, wie man weitermachen soll.“ Die Beerdigung war ein großes Ereignis, das irgendwie bewältigt werden mußte. „Aber nachher bricht alles zusammen“, gesteht Frau Kuske. Da sind Freunde besonders wichtig, die „einen aus diesem schwarzen Loch ein Stückchen rausziehen“. Die brauche man, um etwas Alltag und Stabilität wiederzufinden – und wenn es nur darum geht, mal zusammen spazierenzugehen, Hilfe bei der Hausarbeit zu bekommen oder gemeinsam Kaffee zu trinken. „Und hinterher stellt man fest, das war schön“, sagt Tatjana Kuske, „ich hab mal für zwei Stunden nicht daran gedacht.“ Das hat nichts mit Verdrängung zu tun, es gibt dem Körper aber eine Chance, sich zu erholen – denn „es tut alles im Körper weh, auch physisch“, erinnert sich Frau Kuske an die erste Zeit zurück.

Wovor beide aber eindringlich warnen, sind Beruhigungstabletten oder ähnliches. Und wenn, „dann nur in Absprache mit einem Arzt und nur für kurze Zeit“. „Wir haben erlebt, wie jemand gesagt hat: ‘Ich schmeiße jeden Morgen eine Tablette ein, und dann ist der Tag gut’“, bedauert Dieter Kuske. Das habe aber nichts mit Verarbeitung zu tun.

Natürlich trauert jeder anders und nach seinem Zeitplan. Nach einem Trauerjahr ist nicht plötzlich alles wieder in Ordnung. „Auch die Zeit heilt die Wunden nicht“, sagt Tatjana Kuske, aber „sie verändert sie, weil man lernt, damit umzugehen.“ Gerade am Anfang seien die Gefühlswallungen sehr intensiv. Viele fragten sich, wie sie jemals wieder fröhlich sein können oder haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie spontan lachen. Aber mit der Zeit haben die beiden gelernt, mit ihrem Schmerz umzugehen. Und manchmal etwas gegenzusteuern, etwa an Geburtstagen oder am Todestag: „Diese Tage müssen ganz bewußt geplant werden“, rät Dieter Kuske, „vorher überlegen, was ich machen will und das nicht einfach auf sich zukommen lassen.“ Denn dann könne man sich gleich ins Bett legen. „Wenn man das plant, kann man diesen Tag durchleben, ansonsten wird man so richtig heruntergezogen.“

Mit dem Schmerz nicht allein bleiben

Dabei ist es ganz wichtig, sich nicht an irgendwelchen Erwartungen von anderen zu orientieren. „Es gibt nichts, was in der Trauer nicht erlaubt ist“, betont Tatjana Kuske. Andere haben da auch nichts mitzureden. Denn viele Außenstehe wüßten häufig nicht, was sie zu dem Trauernden sagen sollten, „und dann hört bei manchen anscheinend das Hirn auf“, stellt sie frustriert fest. „Man bekommt gesagt: ‘Das Trauerjahr ist rum, jetzt ist es mal gut’“, erzählt sie, „oder Leute haben die Straßenseite gewechselt, wenn sie mich gesehen haben.“ Ein unmögliches Verhalten, aber nicht so verletzend wie jene Frau, die sie bei anderen als „Rabenmutter“ bezeichnete, weil sie nicht schnell genug einen Grabstein bestellte.

Um Menschen, die einfach nicht wissen, was sie sagen oder tun sollen, entgegenzukommen, rät sie deshalb den Trauernden: „Sag’ ihnen doch, was du brauchst. Geh’ auf sie zu.“ Die Leute seien dankbar, daß ihnen ein Impuls gegeben wird. „Es braucht einen Anstoß von den Trauernden, damit sie keine Mauer um sich herum aufbauen“, erklärt Tatjana Kuske.

Denn sich zurückzuziehen ist erschreckend einfach. „Am Anfang haben wir noch sehr viel miteinander geredet“, erzählt ihr Mann. Aber das habe mit der Zeit abgenommen. Es wurde nur noch über alltägliche Dinge gesprochen, nicht mehr über Genevieve. Jeder hat sich mit seiner Trauer ein bißchen zurückgezogen – der andere sollte ja nicht mit dem eigenen Schmerz belastet werden. Aber das Ehepaar hat seinen Weg wieder zueinander gefunden: „Da muß man richtig dran arbeiten“, sagt Tatjana Kuske. Mit dem Partner über die Gefühle zu reden, sei wichtig. Es schweißt wieder zusammen.

Wie gut es tut, über seine Erfahrungen zu sprechen, hat Dieter Kuske im Verein „Verwaiste Eltern“ gelernt – in München, wo er unter der Woche auch arbeitet. Dort habe er auch gemerkt: „Hoppla, du bist mit deinem Schmerz nicht alleine.“ Die Gruppe tat ihm gut, und sie versuchten, für Frau Kuske auch eine solche Gruppe in Hessen zu finden. Das hat erst nicht so gut funktioniert. Mit dem Trauerseelsorger des Bistums Fulda, Pfarrer Gutheil, konnte das Ehepaar aber schließlich einen Verein in ihrer Nähe gründen, in dem beide inzwischen als Trauerseelsorger arbeiten. Das Vertrauen der Trauernden ist anders, weil sie wissen, daß das Ehepaar diese Situation auch schon durchgemacht hat. „Aber wir sind Trauerbegleiter, keine Psychologen“, unterstreicht Dieter Kuske. In manchen Fällen, bei schweren Depressionen beispielsweise, empfehlen sie den Betroffenen dann, professionelle Hilfe zu suchen.

Das Ehepaar Kuske hat es geschafft, der Liebe zu ihrer Tochter eine neue Form zu geben. Es sei wichtig, sie nicht einfach auf das andere Kind zu übertragen, „dann ersticke ich es“, erklärt Frau Kuske. Für sie sei es inzwischen natürlich, am Bild ihrer Tochter vorbeizugehen und zu sagen, „du fehlst mir heute“ oder auch am Grab zu fragen: „Was hast du denn da für eine Scheiße gemacht?“ Das habe nichts mit Verrücktheit zu tun. „Das sind Dinge, die sind erlaubt“, sagt die Mutter. Sie sind Teil des Trauerprozesses und ihre Art, mit der neuen Situation umzugehen.

Der Tod ihrer Tochter liegt inzwischen sechs Jahre zurück, und viel hat sich bei Familie Kuske verändert – ein besonders großer Einschnitt: das erste Enkelkind. „Ich konnte mich nicht sofort darüber freuen“, gesteht Dieter Kuske. „Man denkt natürlich gleich wieder an seine eigenen“, versucht seine Frau zu erklären. Da seien viele Ängste entstanden, denn „man macht sich wieder verletzlich“. „Dem kleinen Wurm soll ich jetzt wieder mein Herz öffnen“, dachte der frischgebackene Großvater damals, „hoffentlich bleibt er da.“ Beide sind durch ihre Erfahrungen geprägt worden, das läßt sich nicht verleugnen. „Jemanden wieder zu verlieren“, sagt Dieter Kuske, allein der Gedanke sei „unheimlich“.

Es sei „ein Gefühlsspagat, zwischen Freude auf der einen Seite“, beschreibt Dieter Kuske, und einer großen Traurigkeit auf der anderen Seite. Aber er müsse eben über seinen Schatten springen. Heute sind beide froh und stolz über ihr Enkelkind.





Im Trauerfall

Leider verlieren jedes Jahr zu viele Eltern ihre Kinder. Aber sie müssen damit nicht alleine bleiben. Verschiedene Anlaufstellen bieten Betroffenen Hilfe und Unterstützung. Beispielsweise der Bundesverband Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister in Deutschland (www.veid.de), der sich aus vielen regionalen Ansprechpartnern zusammensetzt. Tatjana und Dieter Kuske engagieren sich in dem Selbsthilfeverein „Trauernde Eltern und Kinder“. 

 www.veid.de

 www.trauernde-eltern-mkk.de