© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/15 / 13. November 2015

Pankraz,
Abgeordneter Brand und die Sterbehilfe

Grenzen der Legislative: Kein Gesetz kann einen Tatbestand vollständig ins Auge fassen, kein Gesetz einem Handelnden komplett vorschreiben, was er zu tun oder zu lassen hat. Das wirkliche Leben ist in jedem Fall vielfältiger und perspektivenreicher als jede Form von kodifizierter Gerechtigkeit. Deshalb gibt es ja auch Richter, keine bloßen Aufsichtsbeamten also, die darüber wachen, daß ein Gesetz penibel befolgt wird, sondern – günstigenfalls – hochsensible, pragmatisch gesinnte „Ausleger“, welche Gesetz und jeweilige Entscheidungslage halbwegs überzeugend in Übereinstimmung bringen. 

Auch der Bundestag hat sich vorige Woche bei der Neuregelung der sogenannten Sterbehilfe mehrheitlich recht sensibel und wirklichkeitsnah verhalten, indem er dem Antrag einer Gruppe von Abgeordneten um Michael Brand von der CDU zustimmte. Dieser Entwurf läßt faktisch jede „humane“ Hilfe für Sterbende zu, verbietet jedoch jederlei „geschäftsmäßige“ Form  von Hilfe, nicht nur wenn dafür bezahlt werden muß, sondern überhaupt jeglichen Versuch, die Hilfe irgendwie generalstabsmäßig zu organisieren, sie in Routine und Vereinsmeierei auszuweiten.

Kritiker des erfolgreichen Antrags sprechen nun von dessen angeblicher „Blässe“. Er biete nichts als wohlfeile Phrasen und verbreite unter allen Beteiligten nur lähmende Unsicherheit und Tathemmung. Er lasse weiterhin, wie schon bisher üblich gewesen, Ärzte, Todkranke und Angehörige darüber im Ungewissen, was sie dürfen, ohne sich strafbar zu machen. „Wann dürfen sie die Geräte abstellen“, fragt donnernd die Bild-Zeitung, „wann dürfen Ärzte mit hoch dosierten Schmerzmitteln Leiden lindern, auch wenn damit das Leben des Patienten verkürzt wird? Wo ist die Rechtssicherheit, die alle Seiten benötigen, um am Ende des Lebens individuell über den Tod zu entscheiden? (…) Das bleibt unklar.“


Ja, das bleibt unklar, und Pankraz sagt dazu: Gut so! Sterbehilfe, meint er, ist einfach kein Thema für den Gesetzgeber. Sie ist angefüllt mit tragischen, durch und durch privaten Konflikten, die durch kein Gesetz beruhigt werden können. Es gibt eben Lebenslagen, wo es allein auf die  Einzelentscheidung ankommt, welche im Halbdunkel ungeklärter Legalität bleiben muß, weil andernfalls nur Verwirrung und Unheil gestiftet würden. Das Sterben und seine näheren Umstände gehören dazu.

Man mag es drehen und wenden, wie immer man will: Sterbehilfe-Gesetze schaffen Präzedenzfälle und eine entsprechende Kasuistik,  an denen konkrete Einzelfälle fast automatisch gemessen werden, siehe Holland, siehe die Schweiz, wo „geschäftsmäßige“ Sterbehilfe bekanntlich zugelassen ist und man sogar Geld dafür nehmen darf. Was sich früher exklusiv zwischen dem Sterbewilligen, seinem Arzt und seinen allerengsten Vertrauten abspielte, wird durch eine, und sei es noch so bemühte,  Gesetzgebung zur quasi öffentlichen Angelegenheit, unreine Kräfte hängen sich daran und sind kaum abzuhalten.

Geldgierige oder pflegeunwillige Angehörige kriegen Oberwasser, Krankenhausverwaltungen, die ihren Bestand an Pflegeplätzen kalkulieren müssen, Versicherungen, die auf ihre Bilanzen sehen, nicht zuletzt Meinungsmacher, die einen öffentlichen Druck auf die Opfer ausüben, des Sinnes, daß diese endlich abfahren und der Gemeinschaft nicht länger zur Last fallen.

All das ändert freilich nichts an der Tatsache, daß die Sterbehilfe – auch und sogar die „aktive“ – vernünftige und höchst ethische Argumente auf ihrer Seite hat, die nicht einfach unter Hinweis auf mögliche Mißbräuche oder Deformationen unter den Teppich gekehrt werden dürfen. Und auch jene zwei wuchtigen General-Einwände, die von den prinzipiellen Gegnern der Sterbehilfe ins Feld geführt werden, stehen, bei Lichte betrachtet,  eher auf schwankenden Füßen.


Es sind dies erstens die Mahnung, daß Gott allein über die Dauer des Lebens zu entscheiden habe, und zweitens die Erinnerung daran, daß zum Leben auch das Leid gehöre und dieses Leid zu ertragen sei, daß man diesem Leid nicht durch eine „Flucht in den Tod“ ausweichen dürfe. Beide Argumente überzeugen Pankraz nicht, und er ist wahrhaftig nicht der einzige, der skeptisch bleibt.

„Du sollst nicht morden“, sagt das Gottesgebot, nicht: „Du sollst nicht töten.“ Der Mord also ist das absolute Anathema, nicht der Tod. Das Leben als solches ist der Güter höchstes nicht. Es gibt ethische Lagen, wo es vom Einzelnen oder von der Gemeinschaft tapfer zur Disposition gestellt werden muß; gerade die Kirche sollte dafür einen Blick haben, beruht doch ein gut Teil ihrer Ruhmesgeschichte auf der Erinnerung solcher Lagen. Viele ihrer Märtyrer gingen ja bewußt in den Tod, weil sie ihren Glauben nicht preisgeben wollten.

Natürlich gehört das Leiden, ob psychisch oder physisch, unabtrennbar zum Leben dazu, ist sogar, wie Nietzsche, Thomas Mann und viele andere wußten, ein erstrangiger Spender gehobenen, anspruchsvollen Lebens, stellt den Leidenden unter ein speziell auf ihn selbst und seine Fähigkeiten zugeschnittenes Gesetz, verlangt ihm Tapferkeit und andere hohe Tugenden und damit große Werke ab. Man muß sich am Leiden bewähren. „Töten auf Verlangen“ kann nicht nur für (allzu beflissene) Helfer, sondern auch für den Todbegehrenden selbst ein Weg der Bequemlichkeit und des Kleinmuts sein.

Bei der Entscheidungsfindung kann es immer nur um den Karat des Leidens gehen, um seine genaue Abwägung gegen die Tapferkeit, die Tugend und die Würde – ein schwieriges Geschäft, für das wirklich begabte „Sterbehelfer“ gebraucht werden, Meister des Mitleidens, des Mitfühlens, der Liebe.

Würde eine Legalisierung das kleine Kommando dieser raren Meister vermehren und qualifizieren? Oder würde nicht im Gegenteil alles in Routine und geleckter Geschäftigkeit versinken, so daß das „Sterben auf Verlangen“ ein noch einsameres Geschäft würde, als es das Sterben ohnehin schon ist?