© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/15 / 13. November 2015

Die Angst vor der Katastrophe
Asylkrise: Wachsende Zahl von Übergriffen auf Flüchtlingsunterkünfte beunruhigt die Behörden
Cornelius Persdorf

Kugelbomben, Sprengladungen und Schwarzpulver, daneben Hakenkreuzflaggen und nationalsozialistische Insignien. Polizisten beschlagnahmten am Donnerstag vergangener Woche bei neun Razzien in Sachsen sogenannte „unkonventionelle Spreng- und Brandmittel“ sowie rechtsextreme Devotionalien, wie die Dresdener Staatsanwaltschaft der JUNGEN FREIHEIT mitteilte. Die Beamten verhafteten drei Verdächtige im Alter zwischen 24 und 28 Jahren. Diese sind Mitglieder oder Sympathisanten einer „Bürgerwehr“ mit dem Namen „FTL 360“. Die Staatsanwaltschaft legt den festgenommenen Rechtsextremisten mehrere Anschläge auf Asylbewerberheime zur Last. 

Nicht immer ist die Motivlage klar

Erst am 1. November hatten bislang unbekannte Täter eine Unterkunft in Freital mit illegalen Feuerwerkskörpern angegriffen. Nach Angaben des Operativen Abwehrzentrums, Sachsens Sonderkommission gegen politisch motivierte Gewalt, zerstörten die Explosionen drei Fenster im Erdgeschoß des Gebäudes. Glassplitter fügten einem 28 Jahre alten Asylbewerber Schnittwunden im Gesicht zu. 

Die Kreisstadt Freital bei Dresden ist seit April mehr als zehnmal wegen rechtsextrem motivierter Gewalt in die Schlagzeilen geraten. Eine ähnliche Razzia fand Mitte Oktober in Franken statt: Laut Staatsanwaltschaft plante eine rechtsextreme Gruppe Anschläge auf Asylunterkünfte sowie auf linke Szenetreffs. In zwölf Wohnungen in Ober- und Mittelfranken fand die Polizei Schußwaffen, Munition, Kugelbomben, verbotene Pyrotechnik und rechtsextremes Propaganda-Material. Dreizehn Personen wurden verhaftet. Darunter befanden sich nach Angaben der Polizei auch Mitglieder der Partei „Die Rechte“. 

Schon warnen Experten und Politiker vor der Gefahr eines neuen Rechtsterrorismus. „Wir erleben derzeit eine Welle der Gewalt gegen Flüchtlinge, kaum ein Tag vergeht ohne neue Anschläge auf Unterkünfte oder Angriffe auf Flüchtlinge“, sagte die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), in der vergangenen Woche. „Angesichts brennender Flüchtlingsheime und einer beängstigenden Radikalisierung von Flüchtlingsgegnern ist die Frage, wie Rechtsterrorismus entsteht, leider wieder hochaktuell.“ 

Doch nicht immer ist die Motivlage so klar politisch. Anfang des vergangenen Monats gestand ein Feuerwehrmann, auf dem Dachboden eines Flüchtlingsquartiers im sauerländischen Altena Feuer gelegt zu haben. Dank aufmerksamer Nachbarn konnte die Feuerwehr den Brand schnell löschen, so daß die sieben syrischen Flüchtlinge unverletzt blieben. Laut Polizeibericht hatte der Täter als Motiv „Verärgerung über den Einzug von Flüchtlingen in das Wohnobjekt“ angegeben. Nach Meinung der Staatsanwaltschaft sei dieses Tatmotiv „eine persönliche Überzeugung, keine politische“. 

Die rechtsextreme Motivierung blieb auch bei einem Fall im niedersächsischen Sehnde unklar: In der Nacht zum 1. November weckten Passanten eine montenegrinische Familie, um sie auf den Brand in der Unterkunft aufmerksam zu machen. Dank der schnellen Hilfe konnte das Feuer rasch und ohne Verletzungen gelöscht werden. Noch am gleichen Tag gestand ein 43jähriger die Tat, stritt aber ein ausländerfeindliches Motiv ab. Im baden-württembergischen Wertheim konnte eine geplante Unterkunft wegen Einsturzgefahr nicht mehr genutzt werden, nachdem bisher unbekannte Täter die Turnhalle in Brand gesteckt hatten. Ähnlich gelagert ist der Fall im mecklenburgischen Boizenburg.

Die meisten Taten sind Meinungsdelikte

Die Zahl der Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte hat sich 2015 im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt: Das Bundeskriminalamt (BKA) zählte nach Angaben von Spiegel Online in einer geheimen Studie allein bis Oktober dieses Jahres 505 Fälle; im gesamten Jahr 2014 waren es 177. Die meisten Taten sind allerdings Meinungsdelikte: 153 Straftaten liefen unter den Rubriken „Propaganda“ oder „Volksverhetzung“. Einen weiteren Großteil der Delikte bildet Sachbeschädigung (147). Die Zahlen der Brandstiftungen und Körperverletzungen sind mit 28 beziehungsweise 29 Fällen verhältnismäßig gering. Das BKA erwartet in seiner Analyse, daß die Gewalt sich künftig stärker gegen Personen richtet. „Insbesondere dürften dabei Politiker und Unterkunftsbetreiber im Zielspektrum entsprechend fremdenfeindlich motivierter Täterkreise liegen“, heißt es in dem Bericht. Besonders gefährdet seien Personen, die „von entsprechenden Einrichtungen profitieren oder deren Errichtung fördern bzw. begrüßen“. Nach Angaben von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), der sogar schon von 640 Fällen spricht, seien zwei Drittel der Tatverdächtigen Ersttäter. „Das Täterfeld wurde sozusagen erweitert“, sagte der Minister in der vergangenen Woche. Parallel zum Anstieg der Straftaten sei eine „verrohte Sprache“ zu beobachten. Nach Meinung de Maizières genießen die Täter „klammheimliche Zustimmung von Teilen der Bevölkerung, die selbst nicht straffällig werden“.