© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/15 / 13. November 2015

Bernie Sanders wird laut Umfragen zur Gefahr für Hillary Clinton. Doch hat er Chancen?
Das Wunderkind
Elliot Neaman

In der US-Politik heißt es, der Frühling sei die Zeit der Balz, der Winter die der Paarung: Im Frühjahr und Sommer flirten die Wähler also gerne mit Präsidentschaftsanwärtern, die politischen Sex-Appeal haben, sobald aber die Vorwahlen beginnen, stimmt man für solide Kandidaten. Zwar deuten die Umfragen darauf hin, daß die Schwärmerei für Bernie Sanders länger anhalten wird als erwartet, reelle Chancen sich als demokratischer Präsidentschaftskandidat durchzusetzen, hat der Senator aus Vermont jedoch nur, wenn etwa ein schweres Problem Hillary Clinton aus dem Rennen werfen würde – gleichwohl ist er ihr einziger echter Konkurrent. 

Sanders Laufbahn begann ab den sechziger Jahren in der Socialist Party of America, die für eine US-Version skandinavischer Sozialdemokratie warb. Wäre der Sohn polnischer Juden nicht 1941 in Brooklyn, sondern in Deutschland geboren, wäre der 73jährige heute ein „APO-Opa“ und säße wohl für die Grünen im Bundestag. Statt dessen wurde er 1990 als Unabhängiger ins Repräsentantenhaus gewählt, wo er fast immer mit den Demokraten stimmte, 2006 wechselte er in den Senat. Seine Positionen sind typisch für einen Linksliberalen: pro Krankenversicherung, Mindestlohn, Reichensteuer, Klimaschutz, gegen beide Irak-Kriege. 

Laut Umfrage wären allerdings nur 47 Prozent der Wähler (59 Prozent der Demokraten) bereit, für einen Kandidaten zu stimmen, der sich als „Sozialisten“ sieht. Selbst für einen atheistischen und einen muslimischen Kandidaten wurden mit 58 und 60 Prozent größere Wählerpotentiale ermittelt.  

Evident sind die Ähnlichkeiten zwischen Sanders und Donald Trump: Beide wecken die Begeisterung jener Wähler, die sich nach jemandem sehnen, der das Establishment aufmischt. Beide stellen sich als Herausforderer gegen ihre Parteiführung. Beide stehen für eine nationalistische Wirtschaftspolitik und scheren sich wenig um außen- oder weltpolitische Fragen. Ansonsten aber vertritt Sanders progressive Positionen linksaußen der politischen Mitte. Donald Trump hängt sein politisches Fähnlein dagegen nach dem Wind – mal rechts, mal links der Mitte. 

Wenngleich Hillary Clinton zuletzt wegen der im Rahmen ihrer E-Mail-Affäre aufgekommenen Zweifel an ihrer Ehrlichkeit in den Umfragen Einbußen erlitten hat, wird die Mehrheit ihrer Parteifreunde ihr allerdings nicht die Treue kündigen. Ein Nachteil für Sanders ist zudem, daß er auch bei schwarzen und hispanischen Wählern schlecht ankommt – denn die betrachten den Umweltschutz sowie den Kampf gegen die Wall Street als „weiße“ Themen. Ein Präsidentschaftskandidat aber, der fast ausschließlich weiße Bildungsbürger aus der liberalen Mittelschicht anspricht, ist im Amerika des Jahres 2016 letztlich chancenlos – auch wenn er derzeit als das politische Wunderkind gehandelt wird.