© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/15 / 06. November 2015

Unser Land verteidigen
60 Jahre nach ihrer Gründung muß die Bundeswehr zu ihren Wurzeln zurückkehren
Hans Brandlberger

Sechzig Jahre nach ihrer Gründung wird die Bundeswehr wieder auf ihren ursprünglichen Kernauftrag der Landes- und Bündnisverteidigung eingeschworen. Nahezu ein Vierteljahrhundert lang durfte er ihr als Relikt aus dem 1990 siegreich beendeten Kalten Krieg gelten. Nur altgediente Berufssoldaten haben heute noch Erinnerungen an diese Zeiten. 

War Deutschland mit der Wiedervereinigung, der Auflösung des Warschauer Paktes, dem Ende der Sowjetunion und zumal mit der Erweiterung von Nato und EU nach Osten nicht plötzlich nur noch von Freunden und Partnern umgeben? Durften die politisch Verantwortlichen nicht darauf vertrauen, daß Rußland, so es denn seine eigenen Ressourcen und Handlungsspielräume vernünftig beurteile und seine wahren Interessen erkenne, auf Kooperation mit dem Westen setzen würde? Es war eher dem Respekt vor dem Grundgesetz denn einer Beurteilung der internationalen Lage geschuldet, daß die Landes- und Bündnisverteidigung nicht ganz aus den Weißbüchern, Richtlinien und Konzeptionen getilgt wurde. Szenarien, in dem diese wieder aktuell werden würden, erschienen als äußerst unrealistisch.

Die Illusion, daß mit dem Ende des Kalten Krieges eine neue Ära des Friedens und der Stabilität angebrochen wäre, hatte aber auch nach der Implosion des Ostblocks nur für wenige Augenblicke aufkeimen können. Die Euphorie endete mit der Intervention einer US-geführten Allianz im Mittleren Osten, nachdem der Irak Saddam Husseins Kuwait besetzt hatte, und den Bürgerkriegen auf dem westlichen Balkan, die Jugoslawien als das einstige Musterland eines harmonischen Vielvölkerstaates in einem Blutbad untergehen ließen.

Skepsis der Deutschen zu allen Auslandseinsätzen

Militärische Mittel, so die unerfreuliche, aber angesichts der bekannten Menschheitsgeschichte sicher nicht ganz überraschende Schlußfolgerung, würden weiterhin unverzichtbar bleiben, auch wenn es nun weniger darum ginge, die Souveränität und Integrität Deutschlands gegen eine direkte Bedrohung des eigenen Territoriums zu behaupten, sondern jenseits der eigenen Grenzen Konflikte einzudämmen, für Stabilität zu sorgen und humanitäre Katastrophen zu verhindern. Große Teile der deutschen Politik und nicht wenige Militärs waren anfänglich unsicher, ob das Grundgesetz die Bundeswehr überhaupt dazu legitimierte, hier, natürlich stets gemeinsam mit Verbündeten, tätig zu werden. 

Erst das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 sorgte für Klarheit und definierte zugleich die Voraussetzungen, unter denen Auslandseinsätze der Bundeswehr als zulässig anzusehen wären. Was das Grundgesetz gestattete, mußte damit der Bevölkerung aber noch nicht automatisch als einleuchtend erscheinen. Umfragen zu diesem Thema gaben stets ein für die Bundeswehr deprimierendes Meinungsbild zu erkennen. Die Bürger standen ihren Einsätzen bestenfalls mit wohlwollendem Desinteresse, oft aber mit expliziter Skepsis gegenüber. Auch die griffige Parole des einstigen Verteidigungsministers Peter Struck, daß Deutschlands Sicherheit heute am Hindukusch verteidigt würde, vermochte daran nichts zu ändern. Der Eindruck der Soldaten, in ihren zum Teil brenzligen Auslandsmissionen über keinen öffentlichen Rückhalt zu verfügen, ist daher keine Larmoyanz, sondern stützt sich auf empirisch belegbare Erkenntnisse. Kritikwürdig wäre diese Apathie oder Ablehnung der Bevölkerung aber nur, wenn die Einsätze als sicherheitspolitisch unverzichtbar, konzeptionell schlüssig und schließlich auch noch erfolgreich angesehen werden könnten. Zumindest für jene in Afghanistan, im Libanon oder mit Minikontingenten auf dem afrikanischen Kontinent ist dies aber nicht zu konstatieren.

Zwei Dekaden lang prägten die Auslandseinsätze die Strukturen und Rüstungsprogramme der Bundeswehr sowie die Ausbildung der Soldaten. Eine Reform jagte die andere, ihre Halbwertzeit war stets gering. Das Personal, zumal wenn sein berufliches Selbstverständnis weniger soldatisch im klassischen Sinn war, sondern eher dem eines Verteidigungsbeamten entsprach, fühlte sich oft nicht „mitgenommen“ von den sprunghaften und einsamen Entscheidungen des Ministeriums, dessen Aufmerksamkeit primär darauf gerichtet sein mußte, angesichts der Zumutungen von Politik und Öffentlichkeit das Schlimmste zu verhüten – und dies hieß in erster Linie: Mittelkürzungen.

Verteidigungsausgaben sind in nahezu allen westlichen Demokratien unpopulär. In Deutschland müssen sie aber nicht allein im Ringen der Interessen um die Verteilung knapper staatlicher Ressourcen, sondern auch gegen einen so naiven wie fanatischen Pazifismus behauptet werden, der in Öffentlichkeit und Medien tonangebend ist. Unter diesen Bedingungen konnte es nicht ausbleiben, daß die finanzielle Ausstattung der Bundeswehr immer weniger ihrem tatsächlichen Bedarf entsprach. Auf die Friedensdividende nach dem Ende des Kalten Krieges folgte nahtlos ihr Beitrag zur Konsolidierung des Staatshaushaltes. Trotz des drastischen Abbaus militärischer Dienstposten von 370.000 im Jahr 1994 auf heute maximal 185.000 und einer etwas schleppenderen Reduzierung der Zivilbeschäftigten blieben die Personalkosten nahezu konstant. Aus dem Verteidigungsetat sind heute auch die Pensionszahlungen an ehemalige Bundeswehrangehörige zu stemmen, ein Posten, der angesichts steigender Lebenserwartung dynamisch wächst. 

Verteidigungspolitiker kaschieren oft den Mangel

Aufgrund neuer technologischer Möglichkeiten und gestiegener Anforderungen liegt die „Inflationsrate“ bei neuen Waffensystemen mit etwa zehn Prozent weit über jener, die der Verbraucher gewohnt ist. Die Kosten, um eingeführte Systeme zu erhalten oder zu modernisieren, wachsen rapide, je älter sie sind. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen ist zugute zu halten, daß der Investitionsstau nach langen Jahren der guten Miene zum bösen Spiel heute beim Namen genannt wird. Die Bundeswehr hat zwar eine Vielzahl neuer Systeme eingeführt. Oftmals sind sie aber, wie etwa beim Transportflugzeug A400M, dem Kampfflugzeug Eurofighter oder dem Schützenpanzer Puma zu beobachten, noch nicht so komplett ausgerüstet, daß man sie zu dem Zweck, zu dem sie eigentlich beschafft wurden, bereits vollumfänglich einsetzen könnte. 

Der Grund dafür ist nicht planerisches Unvermögen, sondern ein alter Trick, um neue Vorhaben im Haushalt unterzubringen. Man schiebt erst einmal die bloße Plattform an, deren Kosten weniger erschrecken, und wartet nach deren Billigung Schritt für Schritt mit zusätzlichen Projekten auf, die sie erst auf den Status heben, mit dem sich militärisch etwas anfangen läßt. Hinzu kommt das eigentümliche Phänomen geringer Stückzahlen, mit denen nicht nur eine wirtschaftliche Herstellung (zumal ohne eine Beschaffung identischer Produkte gemeinsam mit Bündnispartnern) kaum möglich ist, sondern oftmals auch dem sich aus den militärischen Strukturen ergebenden Bedarf nicht Rechnung getragen wird. In besonderem Maße war und ist hiervon das Heer betroffen. 

Den Mangel kaschieren die Verteidigungspolitiker in orwellscher Manier bislang mit dem Schlagwort des „dynamischen Verfügbarkeitsmanagements“, das nicht mehr und nicht weniger besagte, daß knappe Rüstungsgüter wenigstens dort bereitstehen sollten, wo sie für den Einsatz oder für Übungen gerade benötigt werden. Der Rest der Truppe durfte derweil Däumchen drehen. Damit soll es nun, so die Ministerin, ein Ende haben, doch lassen die eher homöopathischen Wachstumsraten, die die mittelfristige Finanzplanung für den Verteidigungshaushalt vorsieht, Zweifel aufkommen, daß dieser fromme Wunsch finanzierbar sein wird.

Die Rückkehr der Landes- und Bündnisverteidigung auf die Agenda der Nato und damit auch der Bundeswehr, die durch russische Machtspiele in der Ukraine und anderorten provoziert wurde, stößt daher, nicht allein in Deutschland, an Schranken, die eine konzeptionelle Ausrichtung und eine materielle Ausstattung wie vor 1989 nicht mehr zulassen. Dies ist aber – denn das Rußland von heute ist ebenfalls nicht mit der einstigen Sowjetunion vergleichbar – auch nicht erforderlich. 

Sicherheitspolitisch bedenklich könnte aber mittelfristig die Rekrutierung qualifizierten oder wenigstens qualifizierbaren Personals werden. Alle Attraktivitätsprogramme, die aufgelegt wurden, um im Wettbewerb mit zivilen Arbeitgebern zu bestehen, können ebenso wie verstärkte Bemühungen, junge Frauen für den Dienst zu gewinnen, nichts an der demographischen Entwicklung ändern. Die überstürzte Aussetzung der Wehrpflicht dürfte sich aber nicht nur unter diesem Gesichtspunkt als fatal erweisen. Sie reduziert die Aufwuchsfähigkeit der Bundeswehr im Spannungsfall und schwächt das Bewußtsein der Bürger, für die Sicherheit ihres Staates auch selbst Verantwortung übernehmen zu müssen. Beides ist aber für Landes- und Bündnisverteidigung unerläßlich.

Fotos: Theodor Blank vereidigt erste Soldaten am 12. November 1955: Scharnhorsts Geburtstag; Hamburgs Innensenator Helmut Schmidt zeichnet 1962 Fluthelfer aus: Erste Bewährungsprobe; Kampfpanzer Leopard 1 wird 1965 in die Truppe eingeführt: Hohe Kampfkraft; „Starfighter“ der Luftwaffe in Formation 1969: Irrungen und Wirrungen um „Witwenmacher“; Zerstörer „Rommel“ 1986 im Nato-Manöver vor Norwegen: Marine fest im Bündnis verankert; NVA-Soldaten werden 1990 übernommen und neu eingekleidet: Armee der Einheit; UN-Einsatz in Somalia 1993: Neue Herausforderungen außerhalb des Nato-Gebiets; Deutsche Panzer rücken im Kosovo-Feldzug vor: Erster Kampfeinsatz „out of area“; Geleit für gefallene Kameraden in Afghanistan, Kabul 2002: Das Gesicht der Truppe verändert sich; Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen erfreut sich am Biwak: Arbeitgeber Bundeswehr