© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/15 / 06. November 2015

Sicherheitspolitik in unübersichtlicher Lage
Ist Deutschland wehrfähig?
Jan-Andres Schulze

Gut drei Viertel aller im letzten Jahrhundert weltweit geführten Kriege waren keine Staaten-, sondern innerstaatliche oder transnationale Kriege. Der klassische Krieg zwischen Staaten ist die Ausnahme, nicht die Regel. Wo die drei Elemente des Staates – Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt – erodieren, werden nicht nur der Territorialstaat, sondern auch die trinitarischen Grundlagen des zwischenstaatlichen Kriegsbegriffes von Clausewitz – Regierung, Heer und Volk – erschüttert. Die neue Trinität könnte lauten: Individualisierung, Kommerzialisierung, „Sudden Death“. Dazu mannigfaltige Formen unterhalb des gewohnten Bildes des Krieges, die aber kriegsähnliche Folgen haben können.

Der „Sudden Death“ ist die konsequenteste, zynischste Form der Ächtung des Krieges. Hier findet kein Krieg, eine agonale oder auch asymmetrische bewaffnete Auseinandersetzung statt, in der jene gewisse Wechselseitigkeit, die Chance zur Antwort in Form einer Gegenreaktion, vorliegt. Das Flächenbombardement, das Selbstmordattentat auf zivile Ziele, die Eliminierung durch Drohnen- und Geheimdienst-Aktionen sind reine Vernichtung. Die Botschaft: Fürchte dich ständig, denn in keinem Raum zu keiner Zeit wirst du sicher sein.

Kommerzialisierung meint hingegen in erster Linie den Einsatz global mobiler Söldnerunternehmen. So kämpfen beispielsweise Academi- und Blackwater-Söldner gegen die Separatisten in der Ost-Ukraine. Ein Konflikt, der in manchen westlichen Medien gern lediglich als „zwischenstaatlicher Krieg“ inszeniert wird. Mit einem praktischen Vorteil: Während Regierungen im besten Falle ihrem Parlament verantwortlich sind, sind private Firmen dies nur gegenüber ihren Aktionären. Es sterben im Notfall Menschen, aber keine „Bürger in Uniform“. Gewalt wird ausgelagert und damit die Involvierung „postheroischer Gesellschaften“ zugunsten eines globalen Markts für Gewalt und Sicherheit vermieden.

Der dritte Punkt, die „Individualisierung“, bezieht sich auf weltweit sich selbst ermächtigende Sympathisanten oder Parteigänger. Angefangen bei dem den griechischen Freiheitskampf unterstützenden Lord Byron über die Russische Revolution, die individuelle Sympathisanten und Gegner aus ihren Staatsverbänden und deren militärischen Gewalten mobilisierte, um entweder mit oder gegen die Roten beziehungsweise die Weißen zu kämpfen. Gleiches wenige Jahre später in Form der Internationalen Brigaden in Spanien. Oder aber im Rahmen der Waffen-SS, in der fast eine Million ausländischer Freiwilliger kämpfte. Eine auf militärischem Gebiet entsprechende taktische Individualisierung setzte sich prototypisch vor dem Ersten Weltkrieg im preußisch-deutschen Heer durch: „Selbständigkeit, Schemalosigkeit und Eigeninitiative“ leiteten die Individualisierung (des Gefechtsfeldes) ein.

Im Unterschied aber zur „Auftragstaktik“ erteilt sich der globale Parteigänger den entscheidenden  Auftrag zur bewaffneten Solidarität selbst. Die damit einhergehende Negierung des staatlichen Gewaltmonopols ist typisch für den illegalen, verdeckten Kampf. Moralität und Legitimität sind die entscheidenden Elemente in ihm. Weswegen man folgerichtig die Gesetze und Bräuche des Krieges mißachten darf – da ohnehin die geltende Rechtsordnung ungerecht sei und bis zum Inkrafttreten der einzig maßgeblichen revolutionären, religiösen, nationalen Rechtsordnung mißachtet werden dürfe.

Zwischen Individualisierung und Kommerzialisierung existieren mehrere Hybrid-Formen mit fließenden Grenzen. So sollen sich beispielsweise die ukrainischen Bataillone „Aidar“ und „Asow“ aus Freiwilligen aus ganz Europa speisen und sich durch Folter, Lösegelderpressungen und „kommerzielle Eigeninitiative“ – also Formen Organisierter Kriminalität – auszeichnen. Auf seiten ost-ukrainischer Volksmilizen kämpfen dagegen jene, die vorgeblich „immaterielle Werte“ akkumulieren wollen: Russen, Kosaken, tschetschenische Kadyrow-Getreue, eine serbische Tschetnik-Einheit etc. Zustimmende Anteilnahme fanden in deutschen Medien auch kurdische Rocker aus den Niederlanden und Deutschland, die in Kobane „Jagd auf den IS“ machen – während gleichzeitig der IS Hunderte Kämpfer aus Deutschland und den Niederlanden in seine Reihen eingliedert. Beispiele für die „gerechten“ Kriege unserer Zeit, die aufgrund dieser Gemengelage die Wirksamkeit zwischenstaatlicher Vertragsvereinbarungen in Frage stellen.

Kritiker dieser Entwicklung bemängelten früh, daß die Bundeswehr einen Weg einschlagen könnte, an dessen Ende sie das größte Friedenskorps der Welt darstellen würde mit den teuersten Sanitätern und besten Brunnenbohrern des Bündnisses.

Da die Welt „mehr verbunden, mehr umstritten und mehr komplex“ geworden sei, hat der Europäische Rat im Juni dieses Jahres eine neue „globale Strategie der EU für Außen- und Sicherheitspolitik“ in Auftrag gegeben. Diverse Handlungsfelder sind dabei relevant: Erosion der Staatensysteme im Nahen Osten und Nordafrika mit dadurch ungesteuerten Migrationsbewegungen, Vernetzung gegen den islamischen Terrorismus und die Frage nach der sicherheitspolitischen Rolle der USA und dem Maß europäischer Eigenverantwortung. Zudem wird die Suche nach „gestaltungskräftigen Partnern“ eine Rolle spielen, denn noch ist die EU ein Papiertiger und vermag nur sehr begrenzt eigenständig global zu agieren. Ob damit eine partielle Renationalisierung europäischer Außenpolitik verbunden ist, wie sie sich im „Weimarer Dreieck“ oder dem „Normandie-Format“ abzeichnete, wird sich zeigen.

Bis 1998 war die Bundeswehr eine klassische Verteidigungsarmee mit schweren Panzer- und Artillerieeinheiten. Die Kommunikationsmittel waren auf einen heimatnahen Einsatz ausgerichtet, ebenso die strategischen Transportmittel. Sukzessive wurde daraus eine „Armee im Einsatz“, deren Hauptaufgabe jenseits der Landes- und Bündnisverteidigung im Bereich der „friedensunterstützenden Operationen“ liegt.

Sachkundige Kritiker dieser Entwicklung, wie der ehemalige Leiter des Planungsstabes des Verteidigungsministeriums Hans Rühle, bemängelten früh, daß die Bundeswehr durch eine Halbierung  ihres Umfangs, die Quasi-Abschaffung der Landesverteidigung, den überproportionalen Abbau von Kampftruppen zugunsten von Unterstützungs- und Hilfskräften, Logistik und neuen Groß-Stäben einen Weg einschlagen könnte, an dessen Ende sie das größte Friedenskorps der Welt darstellen würde, mit den teuersten Sanitätern, den besten Brunnenbohrern und den längsten Nachschubkolonnen des Bündnisses.

Die „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ des Bundesverteidigungsministeriums aus dem Jahr 2011 sehen die größten Herausforderungen in Bürgerkrieg, regionaler Destabilisierung, humanitären Krisen, Migrationsbewegungen, Terrorismus, Organisierter Kriminalität, Cyberwar, Echtzeit-Kommunikationstechnologien, Proliferation, klimatischen Veränderungen mit Ressourcenerschöpfung. Als sicherheitspolitische Ziele werden bezeichnet: Sicherheit und Schutz der Bürger, territoriale Integrität und Souveränität Deutschlands und seiner Verbündeten sowie die Wahrnehmung internationaler Verantwortung.

Gefahren liegen nicht nur in Form der Einwanderung von Terroristen, sondern auch in einem Import des Bürgerkrieges, der gekennzeichnet ist durch zunehmende Spaltung der Gesellschaft und ansteigende extremistische Gewalt aller Couleur.

Da sich Innere und Äußere Sicherheit nicht mehr klar unterscheiden lassen, erscheint – so klingt es an – die ideologiegefärbte Diskussion über den Einsatz der Bundeswehr im Inneren überholt. Hier scheint sich das „neue“ Kriegsbild wie „Kleiner Krieg“, „Verdeckter Kampf“ und der „Schutz rückwärtiger Gebiete“ widerzuspiegeln. Die vor 20 Jahren beim Umbau der Bundeswehr von einer klassischen Verteidigungsarmee zu einer „Armee im Einsatz“  bewußt marginalisierten Strukturen – Bevölkerungsschutz, Territorialstreitkräfte, Objektschutz, Jägerverbände – erhalten neues Gewicht.

Bereits vor einhundert Jahren löste sich der deutsche Generalstab sukzessive vom Konzept der Flächenbeherrschung zugunsten dynamischer Bewegung. Kampf und Verteidigung sollten nicht in starren Linien, sondern mittels Tiefengliederung und flächenweiser Verteidigung in Kampfzonen erfolgen. Nichtbesetzte Flächen wurden in Kauf genommen.

Ähnliches zeichnet den Territorialstaat der Gegenwart aus: Die Bronx, die Banlieues, Duisburg-Marxloh – Beispiele sogenannter „lokaler Exklusionsbereiche“, von Gangs und Clans beherrscht – werden seitens der eigentlich zuständigen Exekutivkräfte nur noch im Großaufgebot betreten. Eine einsetzende Gegenbewegung – aber ebenso exkludiert, weil der Öffentlichkeit entzogen – sind die zunehmenden „Gated Communities“: Wohnkomplexe, die durch private Sicherheitsdienste geschützt und mit verschiedensten Arten von technischen Zugangsbeschränkungen versehen sind. Ob Parallelgesellschaft oder Nobelviertel – der neofeudalistische Kontext der Gegenwart produziert überall „Lager“. Dazu zählen auch Flüchtlingslager als Folge globaler Verwerfungen und Bürgerkriege.

Vielleicht hat der deutsche Vorsitz im UN-Menschenrechtsrat die Bundesregierung dazu verleitet, die zwischenstaatliche Humanitäre Intervention innerstaatlich zu praktizieren. So zeichnet sich die „humanitäre Intra-vention“ ohne Mandat – der Verzicht auf Hoheitsrechte in Verbindung mit einem der Exekutive auferlegten Unterlassen – dadurch aus, daß, wie aktuell zu erleben, Moral geltendes Recht suspendiert. Das vielen Flüchtlingen widerfahrene Unrecht wird damit in den eigenen Staat importiert und gegen dessen Staatsbürger in Anschlag gebracht; eine mimetische Spirale auf Kosten von Institutionen (Wohlfahrts-/Sozialstaat etc.) und Kultur, die auch zu einer Gefährdung des europäischen Einigungsprozesses führen kann und damit die kollektive Sicherheit tangiert.

Das Phänomen der kürzlich vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vermuteten 290.000 Illegalen, die irgendwie durch Deutschland ziehen, aber nirgends registriert sind, in Verbindung mit einer Infrastruktur am Limit, birgt weitere Gefahrenquellen. Nicht nur in Form der Einwanderung von Terroristen und steigender Kriminalität. Sondern auch in einem Import des Bürgerkrieges, gekennzeichnet durch zunehmende Spaltung der Gesellschaft und ansteigende extremistische Gewalt aller Couleur, zu der sich immer mehr selbst legitimierte Individuen den Auftrag erteilen. Dazu gehören auch die kommerziellen Nutznießer dieser „sanften Form des Krieges“ – die nicht nur in den Schlepperbanden zu suchen sind.

Wird die Bundeswehr insofern nicht nur ein weiterer „humanitärer“ Einsatz in Form der Umwandlung von Kasernen in Auffangstationen erwarten, sondern Einsätze im Bereich der Inneren Sicherheit? Bereits 1964 hieß es in der in Bremen erschienenen Publikation „Partisanen im Schwarzwald?“: „Die noch immer an saubere Trennung zwischen Friedens- und Kriegszustand gewöhnte Bundesrepublik wäre zum verdeckten Kampf nur bedingt abwehrbereit.“ Man möchte ergänzen: weil kaum jemand Bewußtsein und Kenntnis akuter Bedrohungslagen und Vorstufen physischer Gewalt hat, zu denen auch die schleichende materielle Enteignung und politische Entrechtung zu zählen ist – von Cyberwar, interkontinentaler Raketenabwehr, geophysischen und genetischen Waffen, Proliferation gar nicht zu reden.

Nach einer Gallup-Studie aus dem Jahr 2014 wollen nur noch 18 Prozent der befragten Deutschen ihre Heimat verteidigen. Die Frage lautet deshalb nicht nur, ob sich Deutschland wehren kann, sondern ob es überhaupt zu erkennen vermag, wann es sich in einem (Bürger-)Krieg befindet und ob es sich darin überhaupt wehren will. 





Dr. Jan-Andres Schulze, Jahrgang 1969, ist promovierter Politologe. Er lebt und arbeitet als freiberuflicher PR-Berater und Publizist in München. 2005 erschien bei Duncker & Humblot sein Buch „Der Irak-Krieg 2003 im Lichte der Wiederkehr des gerechten Krieges“.

Foto: Verwaistes Wachhäuschen der Bundeswehr: Fraglich bleibt nicht nur, ob sich Deutschland wehren kann, sondern ob wir überhaupt erkennen, wann wir uns in einem (Bürger-)Krieg befinden und ob wir uns darin überhaupt wehren wollen.