© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/15 / 06. November 2015

Alles ist im Fluß
Familienreport: Der jährliche Zustandsbericht zerlegt die „Keimzelle der Gesellschaft“ in immer kleinere Einheiten
Lion Edler

Es ist ein merkwürdiges Gefühl, das sich bei der Lektüre des aktuellen Familienreports einstellt. Die Sprache des vom Bundesfamilienministerium erstellten Dossiers vermittelt den Eindruck, als ginge es nicht um Familien-, sondern um Gesellschaftspolitik. Wer die Begriffe „Vielfalt“ oder „vielfältig“ in dem Text sucht, erhält elf Treffer. Vergeblich bleibt dagegen die Suche nach Wörtern wie „Schwangerschaft“, „Treue“ oder „Bund fürs Leben“. Interessant auch die sprachliche Unterscheidung bei den Lebensgemeinschaften zwischen gleich- und „gegengeschlechtlich“.

Im Vorwort von Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) stehen eher andere Aspekte im Vordergrund. Familie werde heute „in vielfältigen Formen gelebt“, betont die Ministerin. Dabei werde unter dem Begriff Familie „bei weitem nicht mehr nur Vater-Mutter-Kind verstanden.“ Im „Bewußtsein der Menschen“ verankere sich „ein breites Familienverständnis, das die Vielfalt von Familien akzeptiert“. 

In der Tat scheinen sich die politischen Prioritäten inzwischen durchzusetzen – zumindest bei den 20- bis 39jährigen. Von dieser Altersgruppen vertraten 85 Prozent die Auffassung, bei einer Mutter mit einem neuen unverheirateten Partner handele es sich um eine Familie. Eine alleinerziehende Mutter mit Kind wird von 82 Prozent der befragten Altersgruppe als Familie betrachtet (2000: 40 Prozent der Gesamtbevölkerung), ein heterosexuelles Ehepaar ohne Kinder von 68 Prozent. Die Frage, ob homosexuelle Partnerschaften eine Familie bilden, untersuchte das Ministerium mit einer bemerkenswerten Formulierung: „Ein homosexuelles Paar mit eigenen Kindern.“ Eine solche Konstellation bezeichneten 88 Prozent der 20- bis 39jährigen als Familie. 

Gleichzeitig scheint die Bedeutung von Familie in dieser Altersgruppe zu wachsen: Mehr als 80 Prozent halten es für wichtig oder sehr wichtig, eigene Kinder zu haben. Als ideale Kinderzahl empfinden junge Menschen durchschnittlich 2,26 Kinder – 2001 waren es noch durchschnittlich 1,57 Kinder. Die Geburtenrate (1,41 Kinder pro Frau) blieb gegenüber dem Vorjahr (1,40) praktisch unverändert. Immerhin befindet sich die Kinderlosigkeit bei Frauen zwischen 29 und 34 Jahren auf dem Rückzug. Seit 2008 sank der Anteil der kinderlosen 29 Jahre alten Frauen um 20 Prozentpunkte auf knapp 60 Prozent; bei den 34jährigen Frauen sank sie um 16 Prozentpunkte auf unter 40 Prozent. In der Betrachtung aller Altersgruppen ist die Kinderlosigkeit jedoch gestiegen. Auch bei den 40- bis 44jährigen Frauen waren 22 Prozent im Jahr 2012 kinderlos – fast doppelt so viele wie 1990. Bei den Frauen mit akademischem Abschluß in dieser Alterklasse sind 29 Prozent kinderlos; bei Frauen ohne akademischem Abschluß sind es in der gleichen Altersgruppe nur 22 Prozent.

Verräterische Formulierungen im Internet

Unverändert dramatisch sieht es bei den Eheschließungen aus. Im Berichtszeitraum ließen sich noch 373.655 Paare trauen – 13.768 weniger als 2012. Das durchschnittliche Alter bei der Eheschließung steigt seit Jahrzehnten unverändert und lag 2013 bei 30,9 Jahren (Frauen) beziehungsweise 33,6 Jahren (Männer). Der Anteil vorehelicher Kinder bei Eheschließung lag 2012 bei rund 20 Prozent. „Die Erwartungen an eine Ehe nehmen zu“, heißt es in dem Bericht. Und: „Erfüllen sich diese Erwartungen nicht, entscheiden sich Menschen heute eher für eine Scheidung als vor zehn oder 20 Jahren. Dies wirkt sich auch auf das Scheidungsverhalten aus.“ 169.833 Ehen wurden 2013 gerichtlich geschieden; gegenüber dem Vorjahr sank die Zahl somit um 5,2 Prozent.

Die Bundesfamilienministerin sieht sich angesichts des Reports – wen wundert es – „auf dem richtigen Weg“. Denn mit dem „Elterngeld Plus“ und dem Ausbau der Familienbetreuung habe man den Eltern „mehr Spielraum für die Gestaltung ihres Familienlebens“ gegeben, sagte Schwesig bei der Vorstellung des Reports. Beim „Elterngeld Plus“ handelt es sich um eine Verlängerung des Elterngelds, das gewährt wird, wenn Eltern nach der Geburt des Kindes in Teilzeit arbeiten. Schwesig verwies jedoch auch darauf, daß es für 60 Prozent der Eltern mit Kindern unter drei Jahren ideal wäre, wenn beide Elternteile sich gleichermaßen in Familie und Beruf einbringen könnten. Doch nur 14 Prozent könnten diesen Wunsch auch umsetzen, wie der Bericht zeigt. Daher werde sie sich auch weiterhin „für die Idee der Familienarbeitszeit einsetzen, die es ermöglichen würde, diesem gesamtgesellschaftlichen Anspruch nachzukommen“. 

Auf der Internetseite des Ministeriums zeigen manche verräterischen Formulierungen, worum sich die „Familienpolitik“ ganz besonders sorgt: Die Trends in den Familien müßten genutzt werden, um „Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft“ zu fördern. So würde etwa die gestiegene Erwerbsorientierung von Müttern und die Orientierung von jungen Menschen an einer „gleichberechtigten Aufgabenteilung“ auch „neue Potentiale für die  Wirtschaft“ bergen.