© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/15 / 30. Oktober 2015

Der politischen Macht ausgeliefert
Porträt: Der italienische Philosoph Giorgio Agamben denkt über Biopolitik und den Ausnahmezustand nach
Alain de Benoist

Giorgio Agamben ist ein weltweit bekannter Philosoph, der sich darüber hinaus auch als „Provokateur“ – nicht unbedingt im negativen Sinne – einen Namen gemacht hat. 1942 in Rom geboren, arbeitete mit Italo Calvino und Pier Paolo Pasolini zusammen (in dessen 1964 gedrehtem Film „Das 1. Evangelium – Matthäus“ spielte er die Nebenrolle des Apostels Philippus). Er interessiert sich ebenso leidenschaftlich für Theologie wie für Ideengeschichte, für Rechts- ebenso wie für Kunstgeschichte, seine Lehrtätigkeit führte ihn an die Universitäten von Macerata, Verona und Venedig. Seine Bücher sind nicht zuletzt wegen ihrer Fülle an Abschweifungen keine einfache Lektüre.  

Wie bei italienischen Akademikern keineswegs unüblich speist sich Agambens Werk aus dem Gedankengut der Frankfurter Schule, Carl Schmitts und Martin Heideggers (an dessen Seminar in Le Thor er als 24jähriger teilnehmen durfte) und knüpft an Nietzsche, Hannah Arendt, Pierre Klossowski, Guy Debord, Jean-François Lyotard und Jacques Derrida an. Daneben zeichnet er als Herausgeber für die Gesamtausgabe von Walter Benjamin auf italienisch verantwortlich – das „Gegenmittel“, wie er es nannte, „mit dessen Hilfe ich es geschafft habe, Heidegger zu überleben“!

Stärker noch ist jedoch der Einfluß von Michel Foucault, dem Agamben den für sein Werk zentralen Begriff der „Biopolitik“ verdankt. Bei Foucault ist Biopolitik der politische Umgang mit menschlichem Leben. Agamben gibt diesem Gedanken eine persönliche Deutung, die ihm den Zorn zahlreicher Foucaultianer zugezogen hat.

Der Staat herrscht über den Einzelnen

In seiner acht Titel umfassenden „Homo sacer“-Reihe trifft Agamben eine radikale Unterscheidung zwischen dem „nackten Leben“ (dem griechischen zôé), das den Menschen mit anderen Lebewesen verbindet, und dem „politisch qualifizierten Leben“, dem als Einzelner oder als Gruppe erfahrenen Leben (bíos). Dabei verficht er die Überzeugung, daß die Staatsmacht in das biologische Leben der Einzelnen eingreift, indem sie die Bürger als bloße „Lebewesen“ regieren will. Anders ausgedrückt, schwingt der Staat sich zum Herrscher über die Gesundheit, Fruchtbarkeit und Sexualität der Einzelnen auf, anstatt seiner eigentlichen Aufgabe als Hüter der Souveränität über sein Staatsgebiet nachzugehen. 

Anhand dieser Grundannahme kann Agamben eine Kontinuität zwischen den Machenschaften des Nationalsozialismus und jenen des heutigen Westens aufzeigen. Das Konzentrationslager stellt für ihn einen „absoluten biopolitischen Raum“ dar, in dem rechtliche Kategorien ausgesetzt sind und der Mensch jenseits der Unterscheidung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten auf sein „nacktes Leben“ zurückgeworfen ist. Zugleich ist es jedoch die geheime Schablone für den politischen Raum, in dem wir heute leben – einen Raum, in dem das Lager als Modell an die Stelle des demokratischen verwalteten Gemeinwesens getreten ist. Die Reduktion menschlichen Daseins auf das „nackte Leben“ kommt nicht nur in Guantánamo zum Tragen, sondern auch in zahlreichen Aspekten des Alltagslebens von Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit über biometrische Kontrollen und Gesetze zur Regelung der Fortpflanzung bis hin zum Einsatz des Körpers als Arbeitskraft, dem Verbot von Drogen usw. Diese „Politisierung des nackten Lebens“ macht laut Agamben den eigentlichen Kern des „Nomos der Moderne“ aus. Entsprechend sei politische Macht als Überwachung und Kontrolle umdefiniert worden, die weniger das Ziel verfolge, Ordnung zu gewährleisten, als vielmehr Unordnung herzustellen, um ihre Kontrollfunktion auszuweiten.

Der Ausnahmezustand als rechtliche Form

Auf dieser Basis entwickelt Agamben eine politische Philosophie, die sich großenteils auf den Schmittschen Begriff des Ausnahmezustands stützt. Der Ausnahmezustand rechtfertigt die Aufhebung des Rechtsschutzes mit einer aus dem kanonischen Recht entlehnten Maxime, die erstmals im „Decretum Gratiani“ formuliert wird: „Not kennt kein Gebot.“ (Necessitas non habet legem). Laut Carl Schmitt besteht im Ausnahmezustand „im juristischen Sinne immer noch eine Ordnung, wenn auch keine Rechtsordnung“.

Eben daran knüpft Agamben an, wenn er im Ausnahmezustand die rechtliche Form dessen sieht, das keine rechtliche Form haben dürfte. „Eines der Paradoxe des Ausnahmezustands besteht darin, daß in ihm die Überschreitung des Gesetzes und seine Ausübung nicht unterschieden werden können, so daß das, was der Norm entspricht, und das, was sie verletzt, in ihm restlos zusammenfallen.“ Es stellt sich die Frage: Wie kann ein Zustand, der durch die Unterdrückung der Rechtsnorm gekennzeichnet ist, einen Rechtsstatus beanspruchen?

Die Krise ist kein vorübergehender Zustand

Agamben hat einiges zur ständigen Wiederherstellung des Ausnahmezustandes als Auswirkung sicherheitspolitischer Obsessionen (bzw. unter dem Vorwand der „Bekämpfung des Terrorismus“) geschrieben. Gegenwärtig wird politische Macht weniger zur Vermeidung von Unruhen und Katastrophen eingesetzt, sondern vielmehr als Deutungshoheit, die diese zu ihrem eigenen Vorteil auslegt. Anstatt die Ursachen anzugehen, kontrolliert sie die Wirkungen. Eben deswegen ist die Krise kein vorübergehender Zustand mehr, sondern die innere Antriebskraft, die einerseits den Kapitalismus in Gang hält und andererseits der Staatsmacht ermöglicht, Maßnahmen durchzusetzen, die unter normalen Umständen nicht konsensfähig wären. 

„In den europäischen Staaten gelten heute Gesetze zur Wahrung der Sicherheit, die in mancher Hinsicht deutlich strenger sind als die der faschistischen Staaten des 20. Jahrhunderts“, merkt er in einem Beitrag für Le Monde Diplomatique im Januar 2014 an. „Die zunehmende Ausweitung erkennungsdienstlicher Maßnahmen, die früher gegen Straftäter zur Anwendung kamen, auf alle Bürger hat unvermeidbare Auswirkungen auf deren politisches Selbstverständnis. (…) So ist es nicht weiter verwunderlich, daß die wie Straftäter behandelten Staatsbürger diesen Umgang mit ihnen schließlich als normal hinnehmen.“ Einladungen in die USA schlägt Agamben aus Protest gegen die bei der Einreise erforderliche „biopolitische Tätowierung“ konsequent aus. 

Agamben zeigt die geschichtliche Entwicklung des Ausnahmezustands zum Paradigma normalen Regierens auf: Heute ist die Ausnahme zur Regel geworden und wird als solche hingenommen. Und da Agamben die Entscheidungsgewalt über das Leben als wesentliches Unterscheidungsmerkmal des Ausnahmezustands identifiziert, handelt es sich bei seinem Homo sacer um einen Menschen, der ebendieser Entscheidungsgewalt über seinen biologischen Körper unmittelbar ausgesetzt ist, ohne daß er irgendeine Möglichkeit hätte, sich ihr zu widersetzen: Das „nackte Leben“ ist der Staatsgewalt ausgeliefert.

Bedeutungsverlust des Volksbegriffs

Wie viele andere Autoren auch stellt Agamben die Unterwerfung (oder Unterwanderung) der Politik durch die Wirtschaft fest. In diesem Zusammenhang beobachtet er eine Fusion von Außen- und Innenpolitik, den Verfall der liberalen Demokratie zu einer Form ohne Inhalt und den Bedeutungsverlust des Volksbegriffs. Daraus zieht er den Schluß, daß wir heute in einem posthistorischen Zeitalter leben. „Denn die kommende Politik ist nicht mehr der Kampf um die Eroberung oder Kontrolle des Staates, sondern der Kampf zwischen dem Staat und dem Nicht-Staat (der Menschheit); sie ist die unüberwindbare Teilung in beliebige Singularitäten und staatliche Organisation“, heißt es in seinem Buch „Die kommende Gemeinschaft“. 

Anstatt sich dagegen aufzulehnen, zur Revolution aufzurufen, Widerstand gegen die Macht zu leisten, rät Agamben zur Sezession. Der Staat und der Kapitalismus würden sich letztlich ohne unser Zutun aus eigener Kraft zerstören. Diese Perspektive geht mit einem Menschenbild einher, das den Menschen als „deaktiviertes Wesen“ ohne „biologischen Auftrag (oder) eindeutig festgelegte Funktion“ beschreibt. Ähnlich wie Jacques Derrida wird Agamben deshalb immer wieder vorgeworfen, er rufe nicht zum Widerstand, sondern zur Flucht auf und rede einer Ausweichtaktik das Wort.  

Konkrete Lösungen sucht man bei Agamben in der Tat vergeblich. Ganz im Gegenteil ist er überzeugt, daß der Staat jeden Versuch, die herrschende Macht zu stürzen, nur zum Anlaß nehmen würde, „die Folgen zu seinen eigenen Gunsten zu steuern“. Daher wird ein Umdenken erforderlich, das die „traditionellen Strategien des politischen Konflikts“ überwindet. Hier beläßt Agamben es freilich bei der vagen Aussage, eine Alternative sei von jenen Segmenten der Gesellschaft zu erwarten, die der „Bio-Macht“ des Souveräns über das nackte Leben am stärksten ausgeliefert sind. Eine typisch „postmoderne“ Beliebigkeit, könnte man sagen. 

Den Vorwurf eines übertriebenen Pessimismus kontert er mit einem Zitat von Marx: „Wenn ich dennoch nicht an (der Gegenwart) verzweifle, so ist es nur ihre eigene verzweifelte Lage, die mich mit Hoffnung erfüllt.“ Hoffnung entsteht nicht aus Optimismus, sondern aus Verzweiflung.

Foto: Giorgio Agamben: Anknüpfung an Carl Schmitt