© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/15 / 23. Oktober 2015

Verteidiger der wilhelminischen Wertegemeinschaft
Überindividuelle Vernunft: Zum hundertsten Todestag des nationalliberalen Philosophen Wilhelm Windelband
Olaf Peschke

Mit Wilhelm Windelband starb vor einhundert Jahren, am 22. Oktober 1915, mehr als nur ein wirkungsmächtiger wilhelminischer Philosophiehistoriker, dessen „Lehrbuch der Geschichte der Philosophie“ noch 1993 in 18. Auflage erscheinen konnte. Denn nicht seiner historiographischen Kompetenz verdankte der 1848 in Potsdam geborene preußische Beamtensohn seine glänzende Laufbahn, die ihn über Zürich, Freiburg und Straßburg schließlich 1903 nach Heidelberg führte. Sondern seinem im Zeichen des „Sozialistengesetzes“ von 1878 begründeten Ruf als politischer Philosoph, als nationalliberaler Verteidiger der Werte des Bismarck-Reiches. 

Die Windelband-Artikel einschlägiger Lexika blenden diesen politischen, zeit- und kulturkritischen Resonanzraum seiner Schriften regelmäßig aus. Dort figuriert der Gelehrte einerseits als Verfasser philosophiehistorischer Kompendien, andererseits als Begründer der – im Gegensatz zur vermeintlich allein „erkenntnistheoretisch“ interessierten Marburger Schule um Hermann Cohen und Paul Natorp – „wertphilosophisch“ ausgerichteten Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus. 

Die Suche nach einem zustimmungsfähigen Ganzen

Und in diesem Kontext erinnerungswürdig scheint lediglich Windelbands – dank der Rezeption durch seinen Heidelberger Kollegen Max Weber zu großer wissenschaftstheoretischer Relevanz gelangte – Unterscheidung zwischen den allgemeine Gesetze formulierenden, „nomothetisch“ verfahrenden Naturwissenschaften und den auf einmalige Ereignisse beschränkten, daher nur zu „idiographischen“ Aussagen fähigen Geisteswissenschaften.

Auch in der überschaubaren Windelband-Forschung steht die wissenschaftstheoretische Leistung im Vordergrund, oft eingebettet in die Auseinandersetzung mit seiner von allen zeithistorischen Bezügen entkleideten Werttheorie. Dabei ist es leicht, anhand seiner populären Sammlung von Aufsätzen und Reden („Präludien“) nachzuweisen, wie die von späteren Exegeten isolierte Werttheorie von der Tagespolitik des Kaiserreiches affiziert wurde. 

Schon unmittelbar nach den Attentaten auf Wilhelm I., die Bismarck nutzte, um im Herbst 1878 die sozialdemokratische Partei des „Umsturzes“ verbieten zu lassen, trat er, wie dies Klaus Christian Köhnke, der „Entdecker“ des politischen Windelband, nennt, mit „antidemokratischer Polemik“ hervor. Von da an, bis zur letzten, der Geschichtsphilosophie gewidmeten Vorlesung im Kriegssemester 1914/15, ging es, gleichgültig, ob er über Sokrates, Hölderlin oder das Heilige handelte, stets um die zentrale sozialphilosophische Frage, wie in der von Klassen- und Parteigegensätzen zunehmend zerrissenen modernen Industriegesellschaft deren Zerfall in die „Anarchie der Individuen“ durch einen „neuen Glauben an eine überindividuelle Vernunft“ zu verhindern sei. 

Ein im Zeitalter wuchernder multikultureller Parallelgesellschaften höchst aktuell gebliebenes Problem, wie Jürgen Habermas’ lebenslange Suche nach einem verbindlichen, „zustimmungsfähigen Ganzen“ zeigt. Allerdings glaubte der Realist Windelband den Garanten gemeinsamer Werte in der homogenen Kultur des Nationalstaats und nicht wie Habermas im Wolkenkuckucksheim des „Weltstaates der Menschheit“ gefunden zu haben.