© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/15 / 23. Oktober 2015

Smart-sportlich verdrängt Bescheiden
Unterhauswahl Kanada: Der liberale Aufsteiger Justin Trudeau wies Konservative und Sozialdemokraten in die Schranken
Cornelius Persdorf

Eine Ära ging am Dienstag zu Ende. Nach knapp zehn Jahren verlor die Konservative Partei Kanadas unter Premier Stephen Harper die Regierungsverantwortung. Harper hat laut seinem Biographen John Ibbitson „Kanadas Gesicht verändert“: Seine rigoros marktfreundlichen Reformen – darunter 2011 der Austritt aus dem Kyoto-Protokoll zur CO2-Reduktion – sorgten in Verbindung mit dem jahrelang steigenden Ölpreis für einen Boom der kanadischen Petrolindustrie. Kanadas Pro-Kopf-Einkommen stieg, und gleichzeitig verschob sich der wirtschaftliche Schwerpunkt vom mondänen Osten des Landes zu den ölreichen westlichen Provinzen. Kanada wurde unter Harper produktiver, bodenständiger, konservativer, protestantischer und britischer. 

Doch mit dem fallenden Ölpreis fand der Boom sein Ende. Die Wirtschaft verlor an Dynamik und Harpers Konkurrenz ergriff die Chance auf einen Mehrheitswechsel im kanadischen Unterhaus. Strahlender Sieger der Parlamentswahl ist der Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten Pierre Trudeau, Justin. Laut vorläufigem Endergebnis konnten dessen Liberale im Vergleich zu 2011 (18,9 Prozent) mit 39,5 Prozent ihre Stimmen mehr als verdoppeln. 184 Sitze bedeuten zudem eine Mehrheit, für die mindestens 170 Sitze im Unterhaus notwendig sind. 

Dagegen kommen Harpers Konservative, die 2011 noch 39,6 Prozent erreichten, auf 31,9 Prozent (99 Sitze). Mehr als zehn Prozentpunkte verlor die sozialdemokratische NDP, die bei der Provinzwahl im ölreichen Alberta den Konservativen im Mai eine empfindliche Niederlage bereitete, nun mit 19,7 Prozent (44 Sitze) der große Verlierer ist. Auch der für Unabhängigkeit kämpfende Bloc Québécois büßte 1,3 Prozentpunkte (4,7 Prozent, zehn Sitze) ein.

Der 43jährige Sieger gilt sowohl im Auftreten als auch politisch als smart-sportliches Gegenstück zum als bescheiden und kamerascheu bekannten Harper. Zudem ist der Vater von drei Kindern ein resoluter Verfechter von „pro choice“, des Rechtes auf Abtreibung. Ferner propagieren die „Grits“, wie Kanadas Liberale genannt werden, eine Ausweitung des Asylrechts und einen Ausbau des Sozialstaats. Außenpolitisch will Trudeau den Einsatz der kanadischen Luftwaffe gegen den Islamischen Staat in Syrien beenden. 

Eher ambivalent verhielt er sich gegenüber dem im Juli beschlossenen Antiterrorgesetz. Zwar stimmte er für dessen Entwurf, beteuerte aber, das Gesetz sofort ändern zu wollen, sobald er Premier sei. Es sieht unter anderem vor, daß die Polizei, mit richterlicher Sondererlaubnis, Grundrechte verletzen darf. Anlaß war das Attentat im Oktober 2014 (JF 45/14), bei dem ein radikaler Moslem in das Parlamentsgebäude eingedrungen war und einen zur Ehrenwache abgestellten Soldaten erschossen hatte.