© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/15 / 23. Oktober 2015

Wenig Lust auf moralische Pflichten
Polen: Flüchtlingskrise und soziale Versprechungen bestimmen den polnischen Wahlkampf
Paul Leonhard

Das Renteneintrittsalter soll ebenso wie die Mehrwertsteuer gesenkt werden, der Mindestlohn, das Kindergeld und der Steuerfreibetrag sollen steigen, Rentner kostenlos Medizin erhalten. Polens Politiker versprechen zur Zeit das Blaue vom Himmel. Es geht um Macht und Einfluß. Denn am 25. Oktober wird ein neues Parlament gewählt.

Polen gilt in Europa als ein kleines Wirtschaftswunderland. Unter der regierenden witschaftsliberalen Bürgerplattform (PO) ist das Bruttoinlandsprodukt jährlich um etwa drei Prozent gestiegen, und die durchschnittlichen Gehälter haben sich seit 2007 verdoppelt. Die Arbeitslosigkeit ist auf rund zehn Prozent gesunken. Trotzdem sind die Polen unzufrieden. Das wurde deutlich, als sich im Frühjahr überraschend der Präsidentenkandidat der oppositionellen sozialkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), der bis dahin weitgehend unbekannte Adrzej Duda, gegen Präsident Bronislaw Komorowski durchsetzte.

Kaczynski überläßt einer eher Unbekannten das Feld 

Im September sorgte Duda dann für einen Paukenschlag, als er einen Gesetzentwurf ins Parlament einbrachte, der die Senkung des Renteneintrittsalter vorsieht. Die regierende PO hatte es zuvor auf 67 Jahre angehoben. Ein Thema mit der „Sprengkraft einer Atombombe“, denn die Partei, die diese Projekte unterstützt, werde in den Umfragen vorn liegen, konstatierte die konservative Rzeczpospolita.

Tatsächlich liegt die PiS, in der noch immer Jaroslaw Kaczynski die Fäden zieht, in allen Umfragen mit 10 bis 15 Prozentpunkten vor der Regierungspartei PO. So werden den Nationalkonservativen 33 bis 42 Prozent der Stimmen prognostiziert, der Partei von Ministerpräsidentin Ewa Kopacz nur 26 bis 23 Prozent. Unsicher ist, ob andere Parteien die Fünfprozenthürde und die Zjednoczona Lewica (ZL), eine Vereinigung verschiedener linker Gruppierungen, den Sprung über die Achtprozenthürde schaffen. Sie wäre dann die drittstärkste Kraft

Kaczynski, der selbst nicht als Spitzenkandidat antritt, sondern der eher unbekannten Kulturmanagerin Beata Szydlo den Vortritt läßt, setzt im Wahlkampf nicht nur auf soziale Projekte, sondern warnt auch vor der russischen und vor der islamischen Gefahr. Dabei nutzt er geschickt, daß die Regierungspartei innenpolitisch nicht frei agieren kann, weil sie außenpolitische Rücksichten nehmen muß. Daß Ministerpräsidentin Ewa Kopacz Mitte September überhaupt einlenkte und sich zur Aufnahme von 7.000 Flüchtlingen in zwei Jahren bereit erklärte, dürfte mit Meinungsumfragen zusammenhängen, nach denen es 53 Prozent der Polen für eine „moralische Pflicht“ halten, Flüchtlinge aufzunehmen.

Aber ebenso stehen 54 Prozent einer Aufnahme skeptisch oder ablehnend gegenüber. Und die Angst vor Fremden wächst. Während Kopacz offiziell von 115.000 Migranten (etwa 0,3 Prozent der Bevölkerung) spricht, geht Außenminister Grzegorz Schetyna von „mehreren hunderttausend“, die Stiftung für Sozial-Ökonomische Initiativen von etwa 400.000 Migranten in Polen aus, die vor allem aus den östlichen Nachbarländern stammen.

„Das Pech will es so, daß die schwierigste Phase der Migrationskrise mit dem Wahlkampf zusammenfällt“, schreibt der Publizist Marek Ostrowski in der liberalen Polityka. 

Entsprechend legte Kaczynski kurz vor der Wahl noch eine Schippe drauf und warnte vor „sehr gefährlichen und lange nicht gesehenen Krankheiten“, die durch Immigranten nach Europa getragen würden. „Cholera auf den griechischen Inseln, Bakterienruhr in Wien. Verschiedenartige Parasiten, die in den Organismen dieser Menschen nicht gefährlich sind, die uns aber schaden können.“ Es gehe nicht darum, so der PiS-Vorsitzende, jemanden zu diskriminieren, aber man müsse die Dinge im Auge behalten.