© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/15 / 23. Oktober 2015

Der gefesselte Riese
Bundesregierung: Die Flüchtlingskrise könnte SPD-Chef Sigmar Gabriel zum Verhängnis werden
Paul Rosen

Als die Welt für die Sozialdemokraten noch in Ordnung war und sie mit den Unionsparteien im Wettbewerb um Platz eins im Drei-Parteien-Spektrum standen, gab es für eingefleischte SPD-Leute drei Weltmächte: die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion und den SPD-Parteivorstand. Das ist längst Geschichte. Und die Geschichte ist über die älteste Partei Deutschlands hinweggegangen, ohne auf die Befindlichkeiten ihrer Funktionäre Rücksicht zu nehmen. Zwar regiert sie in der Mehrzahl der Bundesländer, aber auf Bundesebene ist sie so schwach wie in den westdeutschen Zeiten vor dem Godesberger Programm – mit dem sie vom Sozialismus Abschied nahm und infolgedessen der Gefangenschaft im 30-Prozent-Turm entfliehen konnte. So konnte sie zum ebenbürtigen Wettbewerber der CDU/CSU werden, der Willy Brandt schließlich den Platz eins in Deutschland abnahm. 

Parteifunktionäre gehen von der Fahne

Und heute? Die SPD dümpelt in Umfragen bei 25 Prozent dahin. Ihr Vorsitzender Sigmar Gabriel, mehr Zocker denn Staatsmann, hat keine Rezepte und keine Autorität. Zur Masseneinwanderung fällt ihm kein eigener Standpunkt ein, und auch in seinem eigenen Wirtschaftsministerium bekommt Gabriel die Probleme mit der Energiewende nicht in den Griff: Trotz seiner Verhinderungsversuche wird Strom 2016 schon wieder teurer. 

Mag Kanzlerin Angela Merkel auch angeschlagen sein und die CDU/CSU in Meinungsfragen stark zurückfallen: Gabriel wirkt wie gefesselt und kann nichts aus den eigentlich guten Karten machen: Die sichtbare Überforderung der Regierungschefin wäre die Chance für den Wettbewerber, der sie aber nicht zu nutzen versteht, sondern wütend wird wie ein angeschossener Bär: „Nichts von dem, was Sie sagen, ist richtig“, herrschte er die ZDF-Journalistin Bettina Schausten an. Die Nerven des SPD-Chefs liegen blank. 

Natürlich weiß Gabriel, daß die Einwanderungswelle nicht weiter so hoch schwappen kann wie jetzt. In einem gemeinsam von ihm und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) verfaßten Artikel für den Spiegel heißt es: „Wir können nicht dauerhaft in jedem Jahr eine Million Flüchtlinge aufnahmen und integrieren.“ Damit setzt sich der SPD-Chef von Kanzlerin Angela Merkel ab, die von Asylrecht ohne Obergrenze redet. 

Den nächsten Schritt, den Forderungen des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer nach der Einführung von Transitzonen (siehe den Beitrag auf Seite 6) für Flüchtlinge zuzustimmen, mochte Gabriel dann doch nicht gehen, sondern übte einen Spagat: „Die Wahrheit ist: Beide Antworten – das bedingungslose Credo der Kanzlerin (‘Wir schaffen das’) ebenso wie Horst Seehofers ‘Grenzen dicht’ – sind eigentlich Ausdruck der Hilflosigkeit. Wir Sozialdemokraten dürfen das doppelte Spiel von CDU und CSU nicht mitspielen.“ Er tut so, als genieße er den Streit zwischen Merkel und Seehofer: „Wir geben Frau Merkel, solange sie sozialdemokratische Politik macht, auch Asyl in unserer Partei.“ 

Andererseits warnt Gabriel seine Partei völlig zu Recht davor, „Tabuzonen um die Sorgen und Ängste der Bevölkerung“ zu errichten. Zum Erstaunen der Mitglieder des Bundestags-Wirtschaftsausschusses sprach Gabriel in der vergangenen Sitzung nicht über Haushaltszahlen, sondern darüber, wie das deutsche Volk denkt. Er empfehle, sich bei Besuchen hinten in den Saal zu setzen und zuzuhören, was die – wie er es nennt – „arbeitende Mitte“ sagen oder besser flüstern würde: Die Ausländer würden alles kriegen und sie nichts. Das deckt sich mit den Erlebnissen zahlreicher Sozialdemokraten an der Basis, die als kommunale Verantwortungsträger die Flüchtlingsflut aufzunehmen haben. So trat der Magdeburger Oberbürgermeister Lutz Trümper nach 25 Jahren aus der SPD aus, nachdem die SPD-Landtagsfraktionsvorsitzende Katrin Budde sich gegen den Ministerpräsidenten und Koalitionspartner Reiner Haselhoff (CDU) gestellt hatte. Haselhoff hatte gesagt, Sachsen-Anhalt könne nicht 30.000 Asylbewerber im Jahr aufnehmen. Haselhoff habe recht, erklärte Trümper und gab sein Parteibuch zurück, weil er sich den Mund durch die Partei nicht verbieten lassen will.  Andreas Müller, SPD-Landrat des Kreises Siegen-Wittgenstein in Nordrhein-Westfalen, schrieb zusammen mit vier CDU-Landräten einen Brief an Merkel und die Düsseldorfer Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD), in dem es hieß: „Unsere Kapazitäten sind erschöpft, die Helfer längst an ihre Leistungsgrenze gestoßen.“  Der Lüneburger SPD-Oberbürgermeister Ulrich Mägde (SPD) schlug sich öffentlich auf Seehofers Seite und erklärte: „Ich stelle fest, daß im Bund die Realität noch nicht angekommen ist.“ Er forderte die Einrichtung von Transitzonen, die wiederum von den SPD-Linken strikt abgelehnt werden. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD) nannte die Zonen eine Art „Haftanstalt für ganze Familien“. Und Justizminister Heiko Maas (SPD) sprach von Lagern im Niemandsland. 

Jeder neue Vorschlag aus der Union treibt den Keil tiefer in die SPD. SPD-Linke wie Maas werden bis zur Weißglut gereizt, wenn Vorschläge wie vom CDU-Mittelstand erarbeitet werden, Zäune an den deutschen Außengrenzen aufzustellen und wenn der CDU-Chefmittelständler Christian von Stetten von „Grenzbefestigungen“ spricht. 

Gabriel schafft es nicht – wie seinerzeit Brandt und Herbert Wehner –, die Partei zusammenzuhalten. So wird er an der Flüchtlingspolitik scheitern – die Frage ist nur, ob er vor oder nach Merkel scheitert.