© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 44/15 / 23. Oktober 2015

Der Staat hat abgedankt
Der neue Asylkompromiß ist ein Tropfen auf den heißen Stein / Die Politik weigert sich, Grenzen zu ziehen
Michael Paulwitz

Alle Dämme sind gebrochen. Die Feuerwehr steht achselzuckend auf den Deichresten und hält Sandsäckeschleppen für eine Zumutung, die Einsatzleitung bleibt gemütlich im Wagen sitzen, pfeift fröhlich „Wir schaffen das“ und belegt jeden Alarmrufer mit unflätigen Schimpfworten: Vom Asylchaos paralysiert, steuert Deutschland sehenden Auges auf eine Katastrophe zu. Nach wie vor überqueren Tag für Tag illegale Einwanderer in der Größenordnung einer Kleinstadt die wie Scheunentore offenstehenden deutschen Grenzen, in der Mehrzahl junge Männer. Selbst die Notunterbringungsmöglichkeiten sind erschöpft, Wohncontainer, Turnhallen, Feldbetten und Zelte werden knapp, und der Winter steht vor der Tür. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es zu sozialen Unruhen kommt. 

Vor dieser Herausforderung kapituliert der deutsche Staat, seine Repräsentanten flüchten in grotesk realitätsfernes Propagandasprech. Die vom Bundestag beschlossenen und großspurig als „Verschärfung“ deklarierten Änderungen am Asylrecht sind Papierpolitik – symbolische Beschwichtigungshandlungen, die kaum geeignet sind, auch nur kleinere Lecks zu stopfen. Das Gesetz bedeute nicht, daß die Regierung von ihrer Willkommenskultur abrücke, strahlt der frischgebackene „Flüchtlingskoordinator“ im Kanzleramt Peter Altmaier. Er meint das als Lob, tatsächlich beschreibt er das Grundproblem: Solange die Kanzlerin wie ein bockiges Kind nicht einmal Obergrenzen für die Asyl-Einwanderung benennen will und eine Schließung der Grenzen kategorisch ablehnt, wird nichts abebben.

Die Hauptbotschaft bleibt: Wer sein Glück versuchen will, kann kommen, und wer es schafft, kann bleiben. Die verschämt versteckten Nebenbotschaften, die einen „Abbau von Fehlanreizen“ signalisieren sollen, gehen darin unter. Wer in der Erwartung anreist, vom deutschen Staat ein auskömmliches Leben finanziert zu bekommen, wird sich kaum davon abschrecken lassen, daß es in einigen Fällen weniger Bares oder nur noch Sachleistungen geben soll. Besonders, wenn kaum jemand zurückgeschickt wird, der den auf gepackten Koffern Sitzenden erzählen könnte, daß sich der Wind gedreht hätte. 

Schon nach bisheriger Rechtslage hätten zwei Drittel der Asylbewerber als offensichtlich unberechtigt abgeschoben werden müssen. Was nützen abermalige schwammige Erklärungen zum schnelleren Abschieben und die Festlegung weiterer „sicherer Herkunftsstaaten“, wenn keine Flotte von Abschiebeflügen und -zügen signalisiert, daß geltendes Recht auch angewandt wird?

Eine Pro-Asyl-Lobby hat die politische Klasse und das Gros der Medien fest im Griff. Unfähig und unwillig, sich aus dieser Umklammerung zu befreien, schielen die politischen Spitzen dieses Landes wie gelähmt darauf, nur ja die Gnade dieser meinungsmächtigen Klientel nicht zu verlieren, statt das Wohl des Landes und seiner Bürger in den Blick zu nehmen. Mit dem Ergebnis, daß alle Vorschläge, die tatsächlich zur Eindämmung des außer Kontrolle geratenen Asylansturms hätten beitragen können, gar nicht erst den Weg in diese laut Innenminister de Maizière angeblich „größte und umfassendste Änderung des Asylrechts seit den neunziger Jahren“ gefunden haben oder aber noch vor der Bundestagsabstimmung wieder gestrichen wurden: Kein Schnellverfahren in „Transitzonen“, keine Schließung der Grenzen, keine Einschränkung des Familiennachzugs, der dazu verleitet, junge Männer als Quartiermacher vorzuschicken, um nach geglückter Immigration den Rest nachzuholen, keine Debatte über ein Ende des deutschen Sonderwegs der verfassungsmäßigen Asyl-Grundrechtsgarantie.

Angesichts dieses Versagens wächst der Druck von der Basis. Die Realität ist der erbittertste Feind ideologischer Illusionen. Abgehobene Weltanschauungsparteien ohne nennenswerte kommunale Verankerung wie die Grünen können sich ungeniert leisten, diese zu ignorieren. Aber selbst dort spricht ein grüner Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, der die Grenze der Belastungsfähigkeit erreicht sieht, anders als die kirchentagsgeschwängerte Berliner Parteiführung in ihrem „Refugees welcome“-Rausch. Die „Volksparteien“ SPD, CDU und CSU erfahren den Druck der verzweifelten Landräte und Bürgermeister noch unmittelbarer. Gegen den bornierten Trotz der Kanzlerin und ihrer Paladine kommen die Stimmen der Vernunft dennoch nicht an. Der wackere Magdeburger SPD-Oberbürgermeister, der aus Frust über die vernagelten Ideologen sein Parteibuch zurückgab, weil er sich nicht den Mund verbieten lassen will, ist nur ein Vorbote künftiger Zerreißproben.

Schon fordert der Landkreistag, das Versäumte – von den „Transitzonen“ über die Einschränkung des Familiennachzugs bis zur wenigstens teilweisen Abschaffung des Asyl-Grundrechts für offenkundig unberechtigte Bewerber – umgehend nachzuholen. Der Verfassungsrechtler Rupert Scholz erklärt das für machbar, weist der Kanzlerin nach, daß es sehr wohl auch für das Asylrecht Obergrenzen gibt, die im faktisch Machbaren liegen, und bestätigt, daß ein Staat, der auf den Schutz seiner Grenzen verzichtet, seine Staatlichkeit aufgibt.

Die Kanzlerin aber bekräftigt noch ihre Bankrotterklärung. Während reihum die Staaten Europas ihre Souveränität selbst in die Hand nehmen und, Beispiel Slowenien, sogar die Armee einsetzen, um ihre Grenzen zu schützen, will die deutsche Regierungschefin die Verantwortung für die eigenen Grenzen auf Europa abschieben. Schlimmer noch, sie pilgert nach Ankara, um beim türkischen Präsidenten Erdogan, der den Asylantenstrom aus den Lagern auf türkischem Boden mit in Gang gesetzt hat, um Europa unter Druck zu setzen, dessen Drosselung zu erwirken – und dafür einen hohen politischen Preis zu zahlen, den sie mit ihrer „Willkommenskultur“ noch selbst in die Höhe getrieben hat. Wer sich so offensichtlich in die Hände anderer begibt, betreibt die Abdankung des deutschen Staates auf Raten.