© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

Abendland der Raffkes
Das Ich als letzter Wert: Larry Siedentop über den Individualismus als Schrumpfform des Liberalismus in der postchristlichen Gesellschaft
Karlheinz Weißmann

Es ist in diesen Tagen und Wochen viel von „Werten“ die Rede gewesen, wahlweise „unseren“ oder „westlichen Werten“. Und das mit einer Selbstverständlichkeit, die daran hindert nachzufragen: Welche Werte sind das eigentlich genau, inwiefern handelt es sich um unsere oder um westliche, und warum können sie dann allgemeine Verbindlichkeit in Anspruch nehmen, wenn es doch um unsere oder besondere westliche Werte geht? 

Die Antwort, die der Historiker und Philosoph Larry Siedentop auf diese Fragen gibt, ist nicht die übliche: Denn die westlichen Werte wurzeln seiner Meinung nach zwar in einer sehr langen abendländischen – mithin „westlichen“ – Tradition, aber die geht für ihn weder auf das antike Griechenland noch auf das antike Rom noch auf das antike Jerusalem zurück. Siedentop bestreitet einen maßgeblichen Einfluß der griechischen Philosophie, des römischen Rechts und der ersten biblischen Überlieferung mit dem Argument, daß den Ausschlag jene „moralische Revolution“ gegeben habe, die Paulus durch seine Theologie auslöste, weil sie die Gleichheit der Menschen als Gottes Geschöpfe postulierte und die Richtigkeit des moralischen Handelns an einen inneren Maßstab band. 

Angesichts dessen überrascht nicht, daß Siedentop eine Linie über Augustinus und die Erziehungsfunktion des mittelalterlichen Mönchtums, das Naturrecht, die Reformation und den Humanismus bis zu bestimmten Ansätzen des aufgeklärten Denkens zieht. An diesem Punkt differenziert er freilich, was seinen guten Grund darin hat, daß er selbstverständlich um die Spaltung der Aufklärung an der Gottesfrage weiß und vermeiden möchte, den Fortgang der Entwicklung bis zur Gegenwart als Verfallsgeschichte zu erzählen. Denn einerseits vollendete das 18. Jahrhundert die Idee von Rechtsgleichheit und Individualität, andererseits nährte es bestimmte, der ganzen Überlieferung feindliche Vorstellungen, die zu einem vollständigen Bruch führen konnten.

Siedentops Auffassung nach war die Trennung zwischen Weltlich und Geistlich von Anfang an im Christentum angelegt, folglich der Prozeß der Säkularisierung nicht nur unvermeidlich, sondern auch sinnvoll, da so das Religiöse von jeder Versuchung befreit wurde, den ewigen Streit zwischen König und Priester fortzusetzen, auf ihm eigentlich sachfremde Felder überzugreifen, wie es etwa im Konflikt zwischen Kaisertum und Papsttum immer wieder geschehen war. 

Daß sich die Säkularisierung aber bis zum Säkularismus steigern konnte und selbst eine Art religiöse Färbung annahm, erscheint ihm als Perversion des ursprünglich richtigen Konzepts und als Grund für jene Degenerationserscheinungen, die heute Europa und Nordamerika heimsuchen. Diese bloß noch „postchristlichen“ Weltgegenden haben kein angemessenes Verhältnis mehr zu ihrem geistigen Erbe. Siedentop spricht von „liberalen Häresien“, die sich auf beiden Seiten des Atlantiks durchzusetzen drohen: „Es ist ein merkwürdiger und verwirrender Augenblick in der Geschichte“, schreibt er: „Den Europäern – den Ursprüngen ihrer Tradition entfremdet – scheint es an Überzeugung zu fehlen, während die Amerikaner einer gefährlich vereinfachten Version ihres Glaubens aufzusitzen scheinen.“ 

So ergebe sich nicht nur eine starke Tendenz zur Verengung des Liberalismus auf wirtschaftliche Aspekte, sondern auch eine Neigung, jene Form des Individualismus zu kultivieren, die sich berechtigt fühlt, ganz in der Privatsphäre zu leben, ohne Bindung an das öffentliche Wohl. Die Identität von christlicher und bürgerlicher Moral werde in den USA zwar nach wie vor betont, gleite aber immer stärker in eine strikt dualistische Vorstellung von Gut und Böse ab, die nicht zuletzt fatal auf die Politik wirke, während man in Europa den Zusammenhang des einen und des anderen gar nicht mehr begreife und glaube, nur im Kampf gegen den Glauben überhaupt und der willigen Hinnahme jeder Form von Amoral die Freiheit verteidigen zu können.

So sehr man Siedentop in seiner Analyse wie seiner Folgerung beipflichten mag, es irritiert zuletzt doch die Hoffnung, daß sich das Problem durch eine Rückbesinnung oder eine Art konfrontativen Schock bei Erstarken des Islams lösen lassen wird. Seine Argumentation ist zu sehr „old whig“, und es nehmen in ihr die spezifischen historischen Bedingungen, die den europäischen Sonderweg überhaupt erst möglich machten, zu wenig Raum ein. Von diesen Bedingungen ist kaum noch etwas übrig, und in einer Massengesellschaft wird die Verheißung von Freiheit und Selbstentfaltung fast zwangsläufig verstanden – mißverstanden – werden als Chance, das zu tun, was man will (solange man nicht erwischt wird) und zu konsumieren, so viel man möchte.

Larry Siedentop: Die Erfindung des Individuums. Der Liberalismus und die westliche Welt. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2015, gebunden, 495 Seiten, 29,95 Euro