© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

Neoliberal ist die Entgrenzung
Schädlich für Volk und Demokratie: Die linke Berkeley-Politologin Wendy Brown ahnt das Richtige, springt in der Analyse aber zu kurz
Peter Michael Seidel

Manchmal steht ein Detail fürs Ganze: „Die berüchtigte Rede der deutschen Kanzlerin Merkel über die ‘faulen Griechen’ während dieser Krise war nicht nur bedeutsam für die Anheizung reaktionärer populistischer Gefühle in Nordeuropa, sondern auch dafür, daß spanische, portugiesische und griechische Arbeiter kein angenehmes Leben oder einen ebensolchen Ruhestand genießen sollten, als gesunden Menschenverstand auszugeben.“ Basierend lediglich auf einem so nie formulierten, journalistisch zugespitzten Zitat aus einem Spiegel-Artikel vom Mai 2011 kann die Politik-Professorin Wendy Brown von der US-Westküstenuni Berkeley ihr Urteil zur Euro-Rettungspolitik bis 2012 fällen, zum besten gegeben in ihrem neuen Buch „Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört“. Ende der Analyse. 

Im Zentrum von Browns Werk, deren Schriften nach Angaben des Suhrkamp-Verlages bereits in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt wurden, steht die These, daß im Zuge eines sich erfolgreich durchsetzenden Neoliberalismus „das Volk als Zusammenschluß der Bürgerinnen und Bürger und Grundlage der Demokratie abgeschafft“ werde und in der Konsequenz damit auch die Demokratie selbst. Grundlage dafür sei die Ersetzung des politischen Menschen (homo politicus) durch den ökonomischen Menschen (homo oeconomicus), sein Kennzeichen die „Rationalität“ seines Verhaltens angesichts neoliberaler Herausforderungen.

So weit, so gut. Wenige dürften bestreiten, daß die Globalisierung – seit den Krisen Anfang der siebziger Jahre, der Entzauberung des Keynesianismus sowie dem Zusammenbruch des Ostblocks – einen weltweiten Umbruch nicht nur der Wirtschaft darstellt, sondern auch zunehmend die Gesellschaften prägt. Ausdrücke wie „Kasinokapitalismus“ oder „Raubtierkapitalismus“ kommen nicht von ungefähr. 

Für Empirie interessiert sich Brown weniger, ihr Reich ist die Theorie, ihre  „Klassiker“ sind weniger Marx und Hegel, obwohl ihre Sprache ein wenig an letzteren erinnert, sondern eher der Franzose Michel Foucault, der Ende der siebziger Jahre am Collège de France Vorlesungen zur Biopolitik hielt, in denen Brown den Ursprung der Kritik am Neoliberalismus erkennt. Und so kreist die erste Hälfte ihres Buches um die Beschäftigung mit dem französischen Vordenker, während die zweite Hälfte „der Ausbreitung der neoliberalen Vernunft“ gewidmet ist. Vorwort und Nachwort zur Zerstörung von Demokratie und Freiheit runden das Werk ab. Doch kann Brown ihre zentrale These auch belegen?      

Bereits ihre Grundthese vom rationalen Homo oeconomicus wird heute zunehmend in Frage gestellt, so wenn etwa Hans Magnus Enzensberger erklärt: „Wenn nicht einmal mehr die Ökonomen an den Homo oeconomicus glauben, warum sollte ich dann an ihn glauben? (...) Und die Grundannahme der Rationalität stimmt nicht.“ Kein Wunder, daß nach angelsächsischen nun auch an deutschen Hochschulen Verhaltensökonomen auf dem Vormarsch sind. Die „metrischen“ Analysen, von denen Brown so oft spricht, scheinen genauso auf dem Rückzug wie das Rationalitätsaxiom der Spieltheorie des vergangenen Jahrhunderts, einst die Basisannahme für die nuklearstrategische Auseinandersetzung zwischen der Sowjetunion und den USA. Nur auf der theoretischen Ebene und unter Bezug auf Vordenker sind so weitreichende Aussagen wie die von Brown daher kaum in der Praxis zu verantworten. 

Brown versteht sich als Teil der „euroatlantischen Linken“ und kritisiert beispielsweise zu Recht, daß „die Nation nach dem Vorbild von Wal-Mart“ umgekehrt wird, wo „Manager ‘Teamleiter’, Arbeiter ‘Juniorpartner’ und Konsumenten ‘Gäste’ sind“. Auf höherer Ebene versteht sie den Neoliberalismus „als politische Reaktion gegen den Keynesianismus und den demokratischen Sozialismus“. Vor allem aber steht sie verzweifelt vor der Frage, ob eine andere Welt möglich sei, mahnt, die Hoffnung nicht aufzugeben, auch wenn sie keine „realisierbare und ansprechende Alternative“ entwickeln kann. Das ist zumindest ehrlich, aber was besagt es für die Zukunft?

Das Merkel-Wort von der „marktkonformen Demokratie“ läßt schon nachvollziehen, daß auch die von Brown kritisierte „Ersetzung“ politischen Vokabulars durch „Marktvokabular“ demokratierelevant ist. Doch was ist mit der Ersetzung politischen Vokabulars durch emotionalisiertes Wohlfühldeutsch? Das fing in den siebziger Jahren mit dem Begriff „Friedenspolitik“ an und geht heute bis „Willkommenskultur“. Offensichtlich ist Browns Ansatz nicht nur nicht tragfähig, sondern auch zu eindimensional. Die Demokratie mag in der Tat gefährdet sein, aber es ist doch sehr zu bezweifeln, daß der Neoliberalismus dafür die alleinige, vielleicht auch nur die Hauptursache ist.

Wendy Brown: Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, gebunden, 330 Seiten, 29,95 Euro