© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

Nur ein Gemeiner
Herrschaftstechnik als Prinzip: Gregor Schöllgen beleuchtet die Vita des Machtmenschen, SPD-Politikers und Bundeskanzlers Gerhard Schröder
Paul Rosen

Er hat drei Landtags- und zwei Bundestagswahlen gewonnen, steht für das Regieren mit „ruhiger Hand“, aber auch für harte Arbeitsmarkt- und Sozialreformen, hat Deutschland im Kosovokrieg in die ersten kriegerischen Handlungen seit 1945 geführt und in der Währungsunion mit der Serie europäischer Vertragsbrüche begonnen. „Als Gerhard Fritz Kurt Schröder am 7. April 1944, einem Karfreitag, im Lippischen geboren wird, steht das Deutsche Reich vor dem Zusammenbruch“, beginnt eine Biographie über den niedersächsischen SPD-Politiker, der als Ministerpräsident und Bundeskanzler in höchste Staatsämter gelangte. Gar nichts deutete damals darauf hin. 

Biographien gibt es wie Sand am Meer. Viele haben Gemeinsamkeiten: Sie sind langweilig und bestenfalls als Präsente für Partei-Jubilare geeignet. Danach verstauben sie in Regalen. Die Schröder-Biographie von Gregor Schöllgen, der schon Willy Brandt porträtierte, ist eine Ausnahme. Das 1.100 Seiten starke Werk liest sich wie ein Krimi. 

Es ist für Jüngere höchst aufschlußreich, einen Blick auf das untergehende Deutsche Reich und die Nachkriegszeit zu werfen: aber nicht aus der Perspektive von NS-Funktionären, Generälen, Widerstandskämpfern oder Historikern, sondern von unten. Schöllgen hat mit den noch erstaunlich vielen gefundenen Dokumenten ein Bild des Elends von Menschen gezeichnet, die immer nur Pech hatten, denen nie etwas gelang, auch wenn der Wille vorhanden war. Das Bild der völlig verarmten Familie von Gerhard Schröder, dessen Vater gegen Ende des Krieges in Rumänien fiel, erschüttert.  

Schröders Familie nimmt am beginnenden Wirtschaftswunder nicht teil. In bitterer Armut wird der junge Schröder sozialisiert, aber nicht erzogen: „Erziehung braucht Zeit, und die hatte sie nicht“, läßt er später über seine Mutter verlauten. Das hat Folgen, so zum Beispiel seine schon früh erkennbare „Neigung zur Disziplinlosigkeit“, wie Schöllgen schreibt. Eine Spätfolge erlebt ein Millionenpublikum nach der von Schröder verlorenen Bundestagswahl 2005, als er in der Stunde der Niederlage die Gewinnerin Angela Merkel anblafft und Größe, die man ihm zeitweilig zu attestieren pflegte, vermissen läßt.  

Im jungen Schröder reift die Erkenntnis, in die große Politik gehen zu wollen, wofür eine gute Ausbildung unabdingbar ist: Er strebt die juristische Laufbahn an. Schon früh werden andere Charakterzüge Schröders deutlich: seine Unzuverlässigkeit und seine Unabhängigkeit von eigenen Positionen. 1963 ist er in die SPD eingetreten, was Zufall ist. Es hätten genausogut andere, sogar rechte Parteien werden können. Nur das Ziel ist klar definiert: Der Mann will nach oben, egal welche Positionen er dafür vertreten muß. Folglich hält er die Juristerei nicht für eine Wissenschaft, sondern „Herrschaftstechnik“. 

Raum, aber nicht zu breiten Raum, nehmen die Frauengeschichten des Gerhard Schröder ein. Auch hier zeigt sich das Charakterbild: „Tatsächlich ist Gerhard Schröder ein treuer Mensch, solange er zu seiner Frau steht und diese in sein Leben paßt. Ändert sich das, endet die Ehe“, protokolliert Schöllgen. Das Verhalten in der Ehe paßt auf alle anderen Lebenslagen und die Politik. 

Schröder baut sich als Juso-Vorsitzender einen Ruf als linker Bürgerschreck auf, den er auch später als Verteidiger des RAF-Anwalts Horst Mahler pflegt. „Aber für die Überwindung der bestehenden gesellschaftspolitischen Verhältnisse ist Schröder nicht zu haben“, notiert Schöllgen. Schröder spielt nur mit extremen Positionen, er steht nicht zu ihnen. Er bezeichnet sich als „Marxisten“, seine Kenntnisse vom Marxismus sind jedoch rudimentär. Denn Schröder ist, das zeigt sich auch in seiner Kanzlerschaft, „kein großer Leser“. 

Es gibt Beobachter, die überzeugt sind, daß Schröder einer der wenigen ist, die das in Zusammenarbeit mit dem britischen Premier Tony Blair entstandene „Schröder-Blair-Papier“ nie gelesen haben. Ihn fasziniert nur Macht, auf deren Stufen er mit sicherem Instinkt und taktischer Finesse nach oben steigt. Mit welchen Aussagen, ist egal: „Wenn er in Form ist, kann er sein Auditorium im Handumdrehen überzeugen, selbst dann, wenn er heute eine ganz andere Position vertritt als noch gestern“, notiert Schöllgen. 

Schröder erledigt seine Gegner, oder diese gehen von selbst: Oskar Lafontaine und Rudolf Scharping. Es gibt aber treue Leute, die alle Wendungen mitmachen: seine Bürodamen, die bayerische SPD-Chefin Renate Schmidt und Peter Struck, der SPD-Fraktionsvorsitzende und spätere Verteidigungsminister. Schröder rüttelt am Zaun des Bonner Kanzleramts („Ich will da rein“), und 1999 kommt er rein, bildet mit Joschka Fischer die erste rot-grüne Koalition. Schröder macht in dieser Zeit das Regieren Spaß, man sieht ihn mittags mit Rotwein in den teuren Restaurants am Berliner Gendarmenmarkt. Später folgen Jahre der Verantwortung, in denen er aber immer wieder die populistische friedensliebende Karte spielt (Irak-Krieg), und so können sich die SPD und er bei der Wahl 2002 noch soeben hechelnd über die Ziellinie bringen. Es folgt ein schleichender Niedergang; seine unbestreitbaren „Hartz“-Erfolge soll ab 2005 Nachfolgerin Merkel erben. 

Politik verdirbt den Charakter, heißt es. Das stimmt nicht. Charaktere verderben die Politik. Dieses Buch liefert den Beweis. 

Gregor Schöllgen: Gerhard Schröder. Die Biographie. Deutsche Verlagsanstalt, München 2015, gebunden, 1.040 Seiten, Abbildungen, 34,99 Euro