© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

Keine schöpferische Restauration
Volk und Nation aus kultureller Substanz erneuern: Peter Sprengel fremdelt mit dem „konservativen Revolutionär“ Rudolf Borchardt
Frank Wippert

Wer Rudolf Borchardt (1877–1945), einen der Hausheiligen des sich neuerdings als „letzten Deutschen“ inszenierenden Botho Strauß, kennenlernen möchte, muß weiterhin zu den „Gesammelten Werken in Einzelbänden“ greifen, die dessen Witwe Marie Luise Borchardt seit Mitte der fünfziger Jahre herausgegeben hat und die nur als Neuauflage lieferbar sind. Von der auf zwanzig Bände angelegten Briefausgabe erschienen seit 1995 lediglich zwölf. Darunter nur der Ehebriefwechsel (JF 11/15) und die Korrespondenz mit Hugo von Hofmannsthal mit den zu Beginn des Unternehmens versprochenen Kommentarbänden.

Angesichts einer munter produzierenden Borchardt-Forschung, die sich meist ans Gedruckte hält, um sich den Weg zu den Quellen, dem Nachlaß im Marbacher Literaturarchiv zu sparen, ist das ein höchst unbefriedigender Zustand. Trotzdem, so fand der Germanist Peter Sprengel (FU Berlin), sollte die pure Textmasse inzwischen doch ausreichen, um eine bislang nicht gewagte Biographie zu fundieren. 

Alles in allem ist Sprengel, dem eine monumentale Literaturgeschichte der wilhelminischen Epoche zu danken ist und der sich vor allem um die Vergegenwärtigung von Leben und Werk Gerhart Hauptmanns verdient gemacht hat (JF 42/12), eine in zehn Kapiteln straff gegliederte, auf den Zusammenhang der Biographie mit den kulturellen und politischen Kontexten ihrer Zeit konzentrierte Darstellung gelungen, die noch lange ihre Funktion als erste Orientierung über einen der sprachmächtigsten Dichter, Essayisten, Übersetzer und Polemiker deutscher Zunge erfüllen dürfte. 

Professor Sprengel war sich nicht zu fein, im Stadtarchiv von Wesel den schulischen Leistungen Borchardts nachzuspüren, oder den heute noch erhaltenen Grabstein der Großeltern auf dem Berliner Jüdischen Friedhof zu besichtigen, um dessen Privatmythologie von der „Königsberger Kreuznahme“ zu revidieren. Eine mikrologische Kärrnerarbeit, die ihren spektakulärsten Erfolg mit der schon vorab publizierten Entlarvung einer so dreisten wie symptomatischen Brieffälschung feiert. Um dem Freund Hugo von Hofmannsthal zu imponieren, verfaßte der verbummelte Student 1902 namens seines vermeintlichen Doktorvaters, des Göttinger Latinisten Friedrich Leo, einen ellenlangen Hymnus auf sich selbst. 

Für Sprengel zeichnet sich in dieser Hochstapelei ein Lebensmuster ab, in das der „Wille zur Lüge“ (Walter Benjamin) eingraviert war. Überraschen können diese detektivischen Einsichten freilich nicht. Denn als notorischer Aufschneider und Prahler, unzuverlässiger literarischer Projektemacher, Schuldenmajor und Prozeßhansel, Eltern, Freunde, Geliebte und Ehefrauen bedenkenlos hinters Licht führender fragwürdiger Charakter präsentiert sich der Märchenerzähler Borchardt in mindestens jedem zweiten seiner zu Abhandlungen ausufernden Episteln. 

Abgesehen von einigen kritischen Korrekturen teilt Sprengel also nichts wirklich Neues mit. Vielmehr komprimiert er den Inhalt der Briefausgabe zu einer primär um Interpretationen des dichterischen, weniger des essayistischen, zeitkritischen Werkes bereicherten Lebenschronik. Dabei ist die Zurückdrängung des „konservativen Revolutionärs“ Borchardt sicher als die unerfreulichste Schwachstelle dieser Biographie zu beklagen. Tröstlich ist nur, daß Sprengel die sich an den Zeitgeist anbiedernde, peinliche Verlagswerbung konterkariert, der zufolge sein Held „schon früh aus dem Vaterland ausstieg“. 

Das exakte Gegenteil ist richtig, denn der Umzug in die toskanische Villenlandschaft ließ Borchardt weder vor 1914 noch nach 1918 an seiner Mission irre werden, Volk und Nation der Deutschen aus ihrer kulturellen Substanz zu erneuern. „Schöpferische Restauration“ lautete die Parole, unter der der hochkonservative „Bewahrer des Hergekommenen“ zur Attacke blies, um den Kulturkampf gegen die Weimarer Republik auszufechten. Dem „Geschmeiß“ und „Geziefer“ an den Schalthebeln der Berliner Macht rhetorisch genauso mit Feuer und Schwert drohend wie den Profiteuren rasch wechselnder Literatur- und Kunstmoden, „Jud oder Christ“, den „Hardens, Grossmann, Schwarzschild, Jacobsohn und Ihresgleichen“, die ihren „schmierigen Plunder“ an jedem Kiosk, jedem Schaufenster vertrieben. Noch gegen das Schrifttum der emigrierten literarischen Größen des „Weimarer Systems“ rief Borchardt, selbst in Italien faktisch exiliert, nach „gesetzgeberischen Maßnahmen“, allerdings nicht nach „Bücherverbrennung“, wie Sprengel betont. 

Mit sichtlichem Degout und den üblichen ahistorischen Reduktionen („Haßtiraden“, „Ressentiments“) bringt der 1949 geborene Alt-68er Sprengel dieses für ihn finsterste Kapitel der Borchardt-Vita hinter sich. Daß dabei auch sein so zentrales, hier mit „Verdrängung“ und „Selbsthaß“ versimpeltes Verhältnis zur eigenen jüdischen Herkunft kaum die gebührende Beachtung erfährt, muß bei einem Autor kaum mehr verwundern, der mit einem intellektuell blamablen Ausrufungszeichen auf Borchardts Deutung reagiert, der sowjetische Kommunismus sei entstanden aus „der Adaption Marxistischer Hegeltravestien an das starre und arme ostjüdische Gehirn“, oder der Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ als ein „bis heute berüchtigtes“ Werk bezeichnet.

Peter Sprengel: Rudolf Borchardt. Der Herr der Worte. Eine Biographie. Verlag C. H. Beck, München 2015, gebunden, 504 Seiten, Abbildungen, 29,95 Euro