© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

Nichts geht verloren
Und sie haben doch Masse: Physiknobelpreisträger werfen das Standardmodell der Teilchenphysik um
Heiko Urbanzyk

Wenn Physiker eine neue Tür der Teilchenphysik aufstoßen und dabei das mehr als 50 Jahre alte Standardmodell ihrer Zunft zerdeppern, ist das einen Nobelpreis wert. Weil der Japaner Takaaki Kajita (56, Universität Tokio) und der Kanadier Arthur McDonald (72, Universität Kingston) eine solche Tür fanden, um dieses Modell, das den Aufbau der Materie beschreibt, zu revolutionieren, verlieh ihnen die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften in Stockholm am Dienstag der Vorwoche den Physik-Nobelpreis. Die sogenannten Neutrinos galten unter Forschern bisher als masselose Elementarteilchen, die auf ihrem Weg durch Weltall und Erdatmosphäre einfach verschwinden. Das brachte ihnen den Namen „Poltergeister“ oder „Geisterteilchen“ ein.

Elementarteilchen spielen Verkleiden und Verstecken

Kajita und McDonald fanden heraus, daß diese Theorien falsch sind und nichts einfach wegkommt. Die Geisterteilchen wandeln lediglich ihre Gestalt in eine andere Neutrino-Art – sie wechseln sozusagen die Kleidung. Dies ist nach den Gesetzen der Quantenmechanik und Teilchenphysik nur möglich, wenn die Neutrino-Arten unterschiedliche Massen besitzen. Den Wissenschaftlern sei daher mit dem Nachweis, daß Neutrino-Teilchen eine Masse besitzen, ein wichtiger Beitrag zum Verständnis von Materie gelungen, begründete ein Sprecher der Akademie die Entscheidung. Die bisherige Forschung war im wahrsten Sinne des Wortes blind für das Problem, weil es jahrzehntelang am nötigen Werkzeug für das Feststellen der Masse fehlte.

Neutrinos sind verdammt klein. Kleiner als Atome, über die jeder Laie noch heute denkt, sie seien die kleinsten Teile, aus der unsere Welt besteht. Von allen Teilchen kommen die Neutrinos nach den Lichtteilchen im Universum am häufigsten vor. Ihren Namen schuf der italienische Physiker Enrico Fermi. Er bedeutet soviel wie „kleines Neutron“. In jeder Sekunde prasseln auf unseren Körper 60 Milliarden davon pro Quadratzentimeter ein, besser: durchdringen uns. Denn eine Reaktion mit anderen Teilchen findet kaum statt, sondern sie fliegen einfach durch diese hindurch. Sogar die gesamte Erdkugel mit ihrem Durchmesser von mehr als 12.000 Kilometer durchqueren sie, als gäbe es eine direkte U-Bahn-Verbindung.

Die „Poltergeister“ entstehen entweder, wenn kosmische Strahlung auf die Erdatmosphäre prallt. Dies sind sogenannte Myon-Neutrinos, die der Japaner Kajita untersuchte. Oder sie entstehen in der Sonne. Das sind sogenannte Elektron-Neutrinos, die der Kanadier McDonald im Sudbury Neutrino Observatory erforschte. Die dritte bekannte Art sind die Tau-Neutrinos.

Kajita wies seine Hypothese bereits im Jahr 1998 nach. Damals knöpfte er sich mit seinen Kollegen die Myon-Neutrinos mit dem sogenannten Super-Kamiokande-Detektor vor, der 1996 in der Nähe der japanischen Stadt Kamioka in Betrieb ging. Der 40 Meter hohe Tank wurde in einer Mine fast einen Kilometer tief unter der Erde eingebaut, um ihn vor kosmischer Strahlung abzuschirmen. In 50.000 Tonnen ultrareinem Wasser reagieren einige der Teilchen mit Wasserteilchen. Diese Wechselwirkung erzeugt eine Lichtspur, die wiederum von einem der 13.000 Photoelektronenvervielfacher aufgezeichnet wird. Ab 2016 soll der Hyper-Kamiokande als Nachfolgemodell gebaut werden; mit zwei Tanks mit insgesamt fast einer Million Tonnen Reinstwasser.

McDonald jagte die Neutrinos im Jahr 2001 in einer alten Nickelmine in der kanadischen Provinz Ontario. Der 1000-Tonnen-Tank seiner Forschungsanlage beinhaltete „schweres Wasser“, also solches mit Wassermolekülen, bei denen der Kern des Wasserstoffatoms besonders schwer ist. Damit konnten die kanadischen Physiker die Elektron-Neutrinos nachweisen und daß sich diese auf dem Weg von der Sonne zur Erde in Myon- beziehungsweise Tau-Neutrinos wandeln.

So erfolgreich war die Neutrino-Forschung jahrzehntelang nicht. Forscher hatten zwar bereits in den sechziger Jahren eine genaue Vorstellung davon, wie viele Neutrinos den Weg von der Sonne zur Erde nehmen – nur gingen die Theorien bei der Zählung der Detektoren nie auf.

„Und das warf natürlich die Frage auf: Wo zum Teufel ist da der Wurm drin?“, faßt der Wissenschaftsjournalist Ralf Krauter im Gespräch mit dem Deutschlandfunk das Problem der Wissenschaftler zusammen. „Die heute ausgezeichneten Experimente lieferten nach Jahren des Im-Nebel-Stocherns die Antwort auf diese Frage.“ Neutrinos seien, erklärt Krauter, „kosmische Formwandler, die mal so und mal so in Erscheinung treten können“.

Fundamentale Bedeutung für die Kosmologie

Die Frage, ob die Neutrinos masselos sind, ist für die Kosmologie von fundamentaler Bedeutung. Nach heutigen Vorstellungen dehnt sich der Kosmos aus, seitdem er aus dem Urknall entstanden ist. Ob sich diese Expansion unendlich fortsetzt oder ob das Universum irgendwann in sich zusammenstürzt, hängt somit von der Gesamtmasse des Universums ab. „Der Urknalltheorie zufolge enthält jeder Kubikzentimeter einige hundert Neutrinos. Eine endliche Neutrinomasse könnte für die Entwicklung des Kosmos eine entscheidende Rolle spielen“, erläutert die FAZ. Denn theoretisch wäre dann eine weitere Ausdehnung des Kosmos weniger plausibel als sein Kollabieren. Arnulf Quadt vom Vorstand der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) würdigt die Entscheidung des Nobelpreiskomitees in einer Pressemitteilung mit den Worten: „Das ist Physik jenseits des Standardmodells der Elementarteilchenphysik und öffnet ein Fenster zu einem neuen physikalischen Forschungsfeld.“

Kajita und McDonald zeigten sich sehr überrascht über den mit rund 850.000 Euro dotierten Preis, der offiziell am 10. Dezember, dem Todestag Alfred Nobels, in Stockholm übergeben wird. Unter Kollegen gelten sie als ausgezeichnete Forscher ohne Starallüren.