© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

Vordenker des „Volkswehr“-Gedankens
Wilhelm Rüstow: Erinnerung an einen politischen Querkopf und bis heute exzellenten Ruf genießenden Militärhistoriker
Jürgen W. Schmidt

Obwohl aus einer preußischen Offiziersfamilie stammend, war der am 25. Mai 1821 in Brandenburg geborene Wilhelm Rüstow kein typischer Preuße. Quecksilbrigen Gemüts, neigte er zur Unstetigkeit und bewies immense Abenteuerlust. Dazu gesellten sich Intelligenz, Wissensdurst, Streitlust und ein manischer Schreibtrieb. Nach einem schnell abgebrochenen Rechtsstudium trat Rüstow 1838 bei den Gardepionieren ein und wurde 1840 zum preußischen Offizier ernannt. Anschließend wirkte er bei verschiedenen Festungsbauarbeiten. 

Unter dem Pseudonym „Huldreich Schwertlieb“ verfaßte er vielerlei militärische und militärpolitische Aufsätze und vertrat besonders 1848/49 derart linke Positionen, daß man ihn zuerst strafversetzte, dann mit Ehrengerichtsverfahren und schließlich mit einem Militärgerichtsverfahren wegen Hochverrat und Majestätsbeleidigung überzog. Deshalb zu einer langen Haftstrafe verurteilt und aus dem Offizierskorps entfernt, floh Rüstow 1850 in Posen aus der Haft. 

Wichtigster Theoretiker des Militärischen seiner Zeit

Er ging als Emigrant in die Schweiz, wo er zu einer neuen Karriere als Militärschriftsteller, Hochschullehrer und Offizier der Schweizer Armee durchstartete. Beginnend mit den Ereignissen von 1848 widmete er bis 1871 nahezu jedem europäischen Krieg eine eigene militärhistorische Beschreibung und gab wichtige militärhistorische Quellenwerke wie die dreibändigen „Griechischen Kriegsschriftsteller“ heraus. Für seine aktuellen Kriegsbeschreibungen unterhielt Rüstow eine ausgedehnte Korrespondenz quer durch Europa, wobei ihn auch preußische Stabsoffiziere, der bayerische General von der Tann, aber auch der französische Kriegsminister Adolphe Niel eifrig mit Material unterstützten. 

Die militärischen Schriften von Wilhelm Rüstow wurden seinerzeit europaweit gelesen und diskutiert. Otto von Bismarck ließ Wilhelm Rüstow insgeheim über dessen Bruder Alexander und auch über Lothar Bucher mehrfach das Angebot einer Amnestie und Rückkehr nach Preußen machen, doch Rüstow lehnte stets ab. 

Er sagte dazu: „Ich sah in Preußen die Servilität, die gröbste Niedertracht in floribus.“ Trotzdem freute ihn ehrlich der Sieg Preußens 1866 gegen Österreich, obwohl seine beiden Brüder Alexander und Cäsar als preußische Majore in jenem Krieg fielen. Zeichen der persönlichen Abenteuerlust Rüstows waren seine Teilnahme als Stabschef von Garibaldi bei dessen Zug von 1860 und seine Rolle als Sekundant von Ferdinand Lassalle bei dessen tödlichem Duell 1864. 

Ab 1874 plagten Rüstow zunehmend Selbstmordgedanken. Einerseits hatten sich seine Hoffnungen auf eine ihm gemäße politische oder militärische Stellung infolge des Ausbleibens neuer europäischer Revolutionen nicht erfüllt. Dazu kamen familiäre Zerrüttung, Krankheiten und die Sorge vor finanziellen Nöten. Den letzten Stoß gab ihm, daß ein Schweizer Konkurrent bei der Besetzung der Professur für Militärwissenschaften am eidgenössischen Polytechnikum in Zürich vorgezogen wurde. Am 14. August 1878 erschoß sich Wilhelm Rüstow in Aussersihl bei Zürich. Im Abschiedsbrief an seine Töchter schrieb er: „Ein Funken meines Geistes bleibt auf dieser Erde zurück.“ 

Falls er damit seine militärhistorischen Werke meinte, hat er recht behalten. Zwar ist der politische Querdenker Rüstow heute so gut wie vergessen, doch seine militärhistorischen Werke, etwa die mehrbändige „Geschichte der Infanterie“ wie auch die Darstellung „Der Krieg von 1866 in Deutschland und Italien politisch-militärisch beschrieben“ besitzen wegen ihrer Objektivität und Faktenfülle heute noch Wert. Daneben war der Militärtheoretiker Wilhelm Rüstow einer der wichtigsten Vordenker des „Volkswehr“-Gedankens, auf welchem die späteren militärischen Konzepte der deutschen Sozialdemokratie aufbauten.