© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/15 / 16. Oktober 2015

Wolfsburger Großmannssucht
Diesel-Affäre: Um die Strafen zu bezahlen, muß VW einiges zu Geld machen / Langfristig kann der Skandal das Unternehmen sogar stärken
Thomas Kirchner

Ins Amerikanische sind einige deutsche Wörter eingeflossen: von Angst und Bratwurst über Kindergarten bis hin zu Sauerkraut und Weltschmerz. Die Schadenfreude konnte sich hingegen nicht allgemein durchsetzen – das dürfte bei „Volkswagening“ anders werden. Die Neuschöpfung könnte Greenwashing ersetzen, das ohne den Dieselskandal das beschrieben hätte, was Samsung beim Stromverbrauch seiner neuesten TV-Generation gemacht hat: geschummelt.

Vielleicht wird es sogar zum „Word of the year“ gekürt – börsentechnisch spräche einiges dafür: Von 255 Euro ist die VW-Vorzugsaktie um bis zu 60 Prozent eingebrochen. Der Skandal um die Diesel-Abgassoftware war aber nur der krönende Abschluß eines langsamen Verfalls. Für VW ist es dieses Jahr schlecht gelaufen. Zwar stiegen operativer Gewinn und Umsatz um 10,1 Prozent, doch nur aufgrund von Währungseffekten. Die Stückzahlen sanken um fast ein Prozent, während der globale Automarkt um 2,5 Prozent zulegte.

Schon länger reif für echte Reformen

Daß es jetzt Produktionspannen bei den renditestarken Modellen Touran und Tiguan gibt, verschärft die Probleme. Selbst bei Bentley verzeichnete VW einen doppelstelligen Rückgang, obwohl die Luxussegmente anderer Marken auf allen Zylindern laufen. Nur die VW-Tochter Porsche verzeichnete satte zweistellige Wachstumsraten. In Europa legte der Stuttgarter Sportwagenhersteller im September sogar um 51 Prozent zu.

Insgesamt ist der Wolfsburger Konzern längst reformreif. Wäre VW ein US-Konzern, hätte ein aktiver Investor wie Carl Icahn oder Nelson Peltz Anteile gekauft und sich in den Aufsichtsrat wählen lassen, um ein neues Management anzuheuern und das Unternehmen zu sanieren. Dank Mitbestimmung, deutschem Unternehmensrecht, zwei SPDlern im Aufsichtsrat und VW-Gesetz herrscht hierzulande kein solcher Druck. 

Ein Vergleich zu Fiat drängt sich auf. Einst ein staatsnaher Pleitekandidat, krempelte Sergio Marchionne die einstige Fabbrica Italiana Automobili Torino komplett um. 2009 folgte der Einstieg bei Chrysler. Die Fiat Chrysler Automobiles (FCA) ist seit 2014 eine niederländische Holding mit italienischen Abteilungen, einer attraktiven Produktpalette, hohem Umsatz im US-Markt (Chrysler/Dodge/Jeep) und Aussicht auf Konsolidierung (GM oder Renault/Nissan). Die Abspaltung von Ferrari wird helfen, die Unternehmensstruktur noch effizienter zu gestalten.

Wie tief der ineffektive VW-Aufsichtsrat geschlafen hat, zeigen die Panikreaktionen. So kritisierte Betriebsratschef Bernd Osterloh Freiflüge für das Management. Das Dutzend Firmenjets wäre aber ein klassisches Aufsichtsratsthema gewesen. Mitbestimmung funktioniert offenbar nicht, weil diejenigen, die das Dieselgate verbockt haben, sich letztlich selbst kontrollieren. 

Trotz des Skandals schlummert in VW viel verstecktes Potential. An den sinkenden Stückzahlen sieht man, daß beim Versuch, vor Toyota den größten Autokonzern der Welt zu schaffen, offenbar operatives Geschäft der Großmannssucht geopfert wurde. Der steigende operative Gewinn deutet auf gute Produktivität hin, die trotz des Skandal beibehalten werden kann. In den USA gehen kaum Stückzahlen verloren, dort ist VW mit 2,2 Prozent nur ein Nischenanbieter. Ob der Ruf im Rest der Welt so lädiert ist, daß es sich auf den Umsatz auswirkt, kann man bezweifeln. Tests des US-Magazins Consumer Reports zeigen zudem, das Diesel-VWs die NOX-Grenzwerte einhalten könnten – allerdings bei steigendem Verbrauch und schlechter Beschleunigung.

Als Investition ist VW nach dem Kurssturz hochinteressant, auch wenn viele Risiken ins Auge stechen. Die Dividende von zuletzt 4,80 Euro stieg in den letzten Jahren im Schnitt um 20 Prozent. Mittelfristig ist eine Steigerung der Auszahlungsquote auf 30 Prozent geplant, so daß die Dividendenrendite auch bei eventuell steigenden Zinsen attraktiv bleibt. Stellt sich nur die Frage, ob diese Dividende durch die Milliardenkosten der Straf- und Schadensersatzzahlungen beibehalten werden kann. Sollte sie für ein paar Jahre gekürzt werden, ist das für langfristige Investoren kein Problem. 

Mittelfristig dürfte die Dividende auf sieben Euro steigen, denn langfristig kann der Skandal das Unternehmen sogar stärken. Kleinere Ausgabenposten wie das erfolglose Oberklassemodell Phaeton oder das DFB-Sponsoring werden bereits gestrichen. Wenn man den bis zu zehn Milliarden schweren Ferrari-Börsengang als Meßlatte nimmt, könnte eine Abspaltung von Bentley, Lamborghini und Bugatti genug Geld in die Kassen spülen, um einen Teil des Dieselgates zu bezahlen. Auch bei GM kann man kopieren, die Trennung von GMAC ist Vorbild für die Zukunft der Volkswagen Financial Services AG.

Auch andere Dieselanbieter bald in der Bredouille?

Außer einem Kauf von VW-Aktien haben potentielle Investoren einen zweiten Weg, an einem Wiedererstarken VWs teilzuhaben. Beim Kauf von zwei Porscheaktien erwirbt man indirekt auch rund eine VW-Stammaktie, allerdings mit einem Abschlag von derzeit etwa einem Drittel des Werts. Darüber hinaus hat man das Porsche-Automobilgeschäft sowie Barreserven von mehr als sieben Euro pro Aktie. Ein gewisses Risiko dabei sind vorläufig noch potentielle juristische Altlasten aus Zeiten des mißglückten Übernahmepokers von 2008. 

Insgesamt bietet VW langfristig interessante Chancen. Kurzfristige Turbulenzen können vorkommen, doch die Verfügbarkeit von VW-Aktien in der Wertpapierleihe zeigt, daß der Verkaufsdruck abgearbeitet ist. Daß die EU mit strengeren Vorschriften dem Pkw-Diesel den Garaus macht, ist unwahrscheinlich. In Österreich, Belgien oder Frankreich liegt der Diesel-Marktanteil weit über dem deutschen Wert von 48 Prozent. Und bei den angekündigten Abgasmessungen im Straßenverkehr (Real Driving Emissions/JF 42/15) dürften weitere Dieselanbieter in die Bredouille kommen: Tests der böhmischen Diagnosefirma FCD aus Jung-Bunzlau (Mladá Boleslav) zeigen, daß ein Peugeot 308 oder ein 2010er Ford Mondeo TDCi bestenfalls „formal“ die EU-Abgaslimits einhält.

VW-Jetta-Test von Consumer Reports: www.youtube.com