© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/15 / 09. Oktober 2015

Knapp daneben
Der Homo digitalis
Karl Heinzen

Ein neuer Typus von Mensch hat die Bühne der Geschichte betreten, doch seinem Entdecker, dem Bonner Forscher Alexander Markowetz, ist alles andere als feierlich zumute. Der Homo digitalis, so meint der Junior-Professor für Informatik, leide nämlich daran, daß er den Technologien, die doch sein Leben bereichern und erleichtern sollen, wie ein Suchtkranker verfallen ist. 53mal am Tag nimmt er sein Smartphone in die Hand und erliegt der Versuchung, sich durch irgendeine seiner Funktionalitäten ablenken zu lassen. Alle 18 Minuten wird er dadurch aus einer Tätigkeit herausgerissen, auf die er sich eigentlich konzentrieren sollte. Aber auch auf seinem Smartphone bringt er nichts wirklich zu Ende. Wie ein Getriebener springt er zwischen den Anwendungen hin und her. Da er spürt, wie unproduktiv und abhängig er ist, fühlt er sich unglücklich und leer. „Digitaler Burnout“ hat Markowetz das Krankheitsbild getauft und sein Lamento unter diesem Titel in einem Buch zusammengefaßt.

Romantisch die Annahme, die Menschen des vor­digitalen Zeitalters könnten glücklicher gewesen sein.

Anders als die meisten Kulturkritiker, die mit ihren Tiraden nur notdürftig kaschieren, wie sehr sie darunter leiden, von der digitalen Welt abgehängt worden zu sein, kann er sein Urteil immerhin auf eine breite empirische Basis stützen. 300.000 Smartphone-Nutzer haben die an der Universität Bonn zu Forschungszwecken entwickelte App „Menthal“ heruntergeladen, Markowetz konnte die Daten von jedem fünften von ihnen auswerten.

So sauber sein wissenschaftliches Vorgehen ist, so romantisch die unterschwellige Annahme, die Menschen des vordigitalen Zeitalters könnten glücklicher gewesen sein. Eher im Gegenteil. Die Menschen von einst mußten einen großen Teil ihrer kurzen Lebenszeit für Tätigkeiten opfern, die dank moderner Informations- und Kommunikationstechnologien heute in Windeseile erledigt werden. Was in der Welt geschah, bekamen sie nicht mit. Am schlimmsten war, daß sich ihre sozialen Kontakte auf die Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung beschränkten. Wer überlegt, was das für einen selbst bedeuten würde, wird begreifen, warum Alltagsgewalt damals gang und gäbe war.