© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/15 / 09. Oktober 2015

Heinrich und Otto gründen das Reich
Vom ersten Reich der Deutschen und dem Kampf gegen die Ungarn, von der Herrschaft Heinrichs und Ottos, der Frage, warum der Erzengel Michael der Schutzpatron der Deutschen ist, und der, warum die Deutschen Deutsche heißen / Folge 2
Karlheinz Weißmann

Was ist eigentlich ein Volk? Die Frage stellt doch niemand, wirst Du denken. Volk ist ein Allerweltswort. Aber wie bei so vielen Allerweltsworten kennen die wenigsten seine genaue Bedeutung. Im deutschen Wort »Volk« steckt das Verb »folgen«, und man könnte sagen »Volk ist, was folgt«. Nämlich die, die einem Anführer folgen, dem Herzog etwa, der – Du erinnerst Dich? – vor den anderen »her zog«. Ein Volk ist also, vereinfacht ausgedrückt, eine größere Gruppe von Menschen, die einem folgt. Kommt die zweite Frage: Was bringt die Menschen dazu? Dafür könnte man eine ganze Reihe von Gründen nennen, von der gemeinsamen Herkunft angefangen und der gemeinsamen Geschichte über das gemeinsame Siedlungsgebiet bis zur gemeinsamen Sprache. Aber das alles reicht noch nicht. Das wichtigste ist das gemeinsame Gefühl, das Gefühl zusammenzugehören.

Nun zählt zu den wichtigen Erfahrungen jedes Menschen, dass das Gefühl der Zusammengehörigkeit besonders stark ist, wenn unsere Gemeinschaft bedroht wird. Nicht, dass eine Bedrohung allein genügt, um ein Volk zu schaffen, aber eine Bedrohung trägt doch wesentlich dazu bei, dass die Menschen sich klar darüber werden, was ihnen wichtig ist, wo sie hingehören, wofür sie zu kämpfen und möglicherweise zu sterben bereit sind. Insofern ist es auch nicht besonders überraschend, dass die Deutschen als Volk zuerst hervortraten, als sie es mit mächtigen Feinden zu tun bekamen. Das war im 10. Jahrhundert, also etwa hundert Jahre nach dem Tod Karls des Großen. Dessen Nachfolger auf dem Thron hatte das große Frankenreich unter seinen Söhnen aufgeteilt, so wie ein germanischer Bauer seinen Hof unter seinen Söhnen aufteilte. Die Folge davon war, dass aus dem Reich Karls zwei große Stücke, das Westfrankenreich und das Ostfrankenreich, sowie ein Haufen kleinerer Gebiete entstanden. Diese Teilung war allerdings nicht nur Zufall. Vielmehr unterschieden sich die Einwohner des Westfrankenreichs mehr oder weniger deutlich von denen des Ostfrankenreichs. Das hatte natürlich mit der Geschichte zu tun: Im Westfrankenreich war der Einfluss der römischen Tradition viel stärker, während Ostfranken immer der germanischen Überlieferung verhaftet blieb. Hier sprach man nicht das vornehme Latein, sondern eine germanische, also die Sprache des Volkes, oder wie man damals sagte: die »lingua theodisca«. Darin steckt schon die Vorform des Wortes »deutsch«, aber es dauerte noch einige Zeit, bis man die Bezeichnung der Sprache auf diejenigen übertrug, die sie sprachen.

Fürs erste betrachteten sich die Einwohner des Ostfrankenreichs als Untertanen ihres Königs, vor allem aber als Angehörige eines Stammes. Im 10. Jahrhundert waren das nur noch fünf: die Bayern, die Schwaben, die Lothringer, die Franken und – wir kennen sie schon – die Sachsen. Um die Sache nicht unnötig zu komplizieren, sei gesagt, dass die Franken, die hier aufgezählt werden, mit den Franken des Frankenreichs so wenig zu tun haben wie die Sachsen des Mittelalters mit den Sachsen von heute. Für uns sind sie nur deshalb wichtig, weil aus ihrem Stamm im Jahr 911 der erste König des Ostfrankenreichs hervorging. Dieser Konrad war kein Nachfahre Karls des Großen mehr, woran sich schon zeigte, dass die Einwohner Osfrankens begannen, sich als eigenständig zu empfinden. Dazu hatte, wie gesagt, das Auftauchen einer Bedrohung ganz wesentlich beigetragen. Eigentlich handelte es sich sogar um zwei Bedrohungen: Das eine waren die Wikinger, die mit ihren Drachenschiffen an die Küsten kamen und sogar die Flüsse hinauffuhren, um überall zu plündern, zu morden und zu brennen; das andere waren die Ungarn, ein Reitervolk aus Asien, dessen Krieger von Osten kommend auf kleinen schnellen Pferden bis nach Frankreich und Italien vorstießen und ihrerseits eine breite Spur der Verwüstung hinterließen. Um mit den Wikingern und den Ungarn fertig zu werden, die das deutsche Gebiet immer wieder angriffen, brauchte man einen fähigen Anführer. Aber es zeigte sich rasch, dass Konrad von Franken das nicht war. Er konnte weder die Grenzen des deutschen Gebiets verteidigen, noch die anderen Herzöge dazu bringen, seine Herrschaft anzuerkennen. Zuletzt kommt ihm eigentlich nur ein Verdienst zu: Als er spürte, dass er sterben musste, befahl er seinem Bruder, der hoffen konnte, sein Nachfolger zu werden, die Abzeichen des Königs – Krone, Zepter, Mantel und Armspangen – an den mächtigsten Herzog des ostfränkischen Staates zu übergeben: Heinrich von Sachsen. Dass Heinrich eigentlich sein Gegner war, wusste Konrad genau, aber er scheint, trotz seiner Schwäche, doch ein so kluger Herrscher gewesen zu sein, zu wissen, dass nur Heinrich in der Lage sein würde, das Reich zu einigen und die Ungarn wie die Wikinger zu schlagen.

Der Überlieferung nach sollen die Boten Konrads Heinrich bei der Vogeljagd angetroffen haben. In Quedlinburg, unterhalb der Festung und der Kirche, in der man Heinrich später bestattete, zeigt man heute noch den »Finkenherd«, wo der Herzog sich damals aufgehalten haben soll, und gelegentlich nennt man ihn deshalb auch Heinrich den Vogler oder Heinrich den Finkler. Wichtiger als das ist aber, dass die Jagd auf Vögel damals im Grunde etwas für die einfachen Leute war, die Bauern etwa, nichts für adlige Herren, die auf größeres Wild gingen. Die Erzählung diente deshalb dazu, deutlich zu machen, dass Heinrich ein König war, dem das Volk am Herzen lag, ein Mann ohne Hochmut. Gleichzeitig war er aber auch ein tatkräftiger Politiker und tapferer Krieger, der selbst an die Spitze seiner Männer trat, wenn es in die Schlacht ging. Das erste kann man daran erkennen, dass Heinrich, den zuerst nur Sachsen und Franken als König anerkannten, nach und nach alle anderen Herzöge dazu brachte, ihm zu gehorchen, das zweite wurde deutlich an der klugen Politik, die er gegenüber den Ungarn trieb. Im Jahr 919, als Heinrichs Herrschaft begann, hatten sie ihre furchtbaren Überfälle auf das deutsche Gebiet wiederholt. Glücklicherweise konnte Heinrich aber kurz darauf einen ihrer Adligen gefangennehmen, so dass die Ungarn zu Verhandlungen bereit waren. Er machte mit ihnen einen neun Jahre dauernden Frieden aus, musste allerdings so viel Gold und Silber dafür zahlen, dass nicht nur seine Untertanen, sondern auch die reichen Kirchengüter verarmten.

Natürlich war so ein Tribut demütigend. Aber Heinrich nahm das hin, weil er dadurch die Möglichkeit hatte, Vorbereitungen für den Kampf gegen die Ungarn zu treffen und seine Position zu stärken. Die wichtigsten dieser Vorbereitungen waren der Bau von Burgen und die Befestigung der Klöster und der großen steinernen Kirchen, in die die Bauern mit ihrem Vieh flüchten sollten, sowie die Aufstellung einer Reiterei, die zum Teil aus Leichtbewaffneten und zum Teil aus Gepanzerten bestand. Acht Jahre lang tat Heinrich alles, um die Ungarn in Sicherheit zu wiegen und sich gleichzeitig auf den Kampf einzustellen, der unausweichlich kommen musste. 933 war es endlich soweit. Wieder erschienen die Abgesandten der Ungarn und verlangten die Auslieferung des Tributs. Heinrich empfing sie auch, aber an Stelle von Gold und Silber ließ er ihnen einen toten fetten Hund vor die Füße werfen, dem Ohren und Schwanz abgeschnitten waren.

Die Ungarn verstanden natürlich genau, was das bedeuten sollte, sammelten ihr Heer und griffen an. Sie hatten aber nicht mit den vorausschauenden Maßnahmen Heinrichs gerechnet. Wer konnte, ging in die Fluchtburgen und überließ den Ungarn nichts als leere Häuser und Hütten. Schließlich kam es bei dem Ort Riade an der Unstrut zur Schlacht. Jetzt bewährte sich, was Heinrich getan hatte, und die Ungarn erlitten eine so vernichtende Niederlage, dass sie für zwei Jahrzehnte keinen größeren Vorstoß nach Deutschland mehr wagten. Seit dem Tag von Riade war klar, dass es nicht mehr nur Sachsen oder Bayern oder Schwaben oder Franken oder Lothringer gab, sondern ein neues Volk, das seinem König folgte.

Heinrich nutzte den Sieg auch dazu, sein Reich nach allen Seiten zu sichern. Er hatte schon früher kleine slawische Stämme – die Slawen waren jene Völker, die sich östlich von den Germanen angesiedelt hatten – unterworfen, und nun ging er gegen Dänemark vor, das ein wichtiger Ausgangspunkt für die Wikingerzüge war. 934 eroberte er die Stadt Haithabu und zwang den König der Dänen, seine Oberhoheit anzuerkennen. Als er zwei Jahre später starb, konnte niemand mehr bestreiten, dass Heinrich der mächtigste Herrscher in der Mitte, im Norden und im Westen Europas gewesen war. Seine Bedeutung war so groß, dass ein späterer Geschichtsschreiber meinte, hätte Heinrich im antiken Griechenland gelebt, wäre er wie ein Gott verehrt worden.

So etwas gab es im christlichen Mittelalter natürlich nicht, aber wenn man bedenkt, wie schwer die Anfänge des deutschen Reiches waren, mit dem schwachen Konrad von Franken und dem ewigen Streit der Herzöge, so wird man die folgenden einhundert Jahre als ausgesprochen gute Zeit unserer Geschichte betrachten dürfen. Und das ist in erster Linie Heinrich zu verdanken, und auch der Tatsache, dass es ihm gelang, schon vor seinem Tod zu regeln, dass sein Lieblingssohn – nicht sein Erstgeborener! – Otto zum Nachfolger bestimmt wurde und dass das Reich ungeteilt an ihn übergehen würde. Diese Maßnahmen waren deshalb wichtig, weil nach germanischer Vorstellung ein König gewählt werden musste. Unklar war allerdings, wer das Wahlrecht besaß: alle freien Männer, nur die Adligen oder sogar nur die vornehmsten Adligen? Was man sich damals nicht hätte vorstellen können, war eine Wahl wie wir sie kennen, wenn alle Bürger sich frei entscheiden können zwischen den Kandidaten verschiedener Parteien, für die sie in einer Wahlkabine – also im geheimen – abstimmen oder nicht. Die Wahl des Königs war öffentlich, sie erfolgte durch Zuruf, eigentlich durch den Lärm, mit dem man Einverständnis signalisierte, und es gab keine freie Wahl, denn die Menge der Kandidaten war eingeschränkt durch die Abstammung. Man glaubte damals, dass die edle Herkunft  den  Ausschlag  geben müsste, weshalb normalerweise der Sohn  eines  Königs  König wurde. Insofern hatte Otto nicht zu fürchten, dass irgendein anderer  Adliger  ihm  seinen Thron streitig machen würde.  In  der Familie gab es aber schon Neider. Sein  älterer  Bruder  Thankmar etwa  war  so  wütend  über  die Entscheidung  des  Vaters,  dass er mehrfach rebellierte und sich sogar  mit  den  Ungarn  verbündete. Genutzt hat es ihm nichts, schließlich musste er sich unterwerfen.  Dasselbe  gilt  auch  für den  jüngeren  Bruder  Heinrich, der ähnlich wie Thankmar eine Verschwörung gegen Otto anzettelte.

Die Ungarn waren zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr dieselbe Gefahr wie in den Jahrzehnten zuvor, als man immer aufs neue betete: »Herr bewahre uns vor den Pfeilen der Ungarn.« 955 erwartete Otto sie auf dem Lechfeld bei Augsburg. Er selbst führte den Angriff seiner Reiter und schlug die Ungarn so vernichtend, dass sie sich niemals wieder auf den Weg nach Westen machten, sondern zukünftig als Sesshafte in ihrem Gebiet blieben. Otto hatte seine Krieger mit der »Heiligen Lanze« in den Kampf geführt, in deren Spitze ein Nagel eingelassen war, von dem man meinte, dass er vom Kreuz Christi stammte und deshalb wundertätige Kraft habe. Vor allem aber glaubte der König, dass er diesen Sieg der Hilfe Sankt Michaels verdankte, der auf seine Fahne gemalt war, wie er den großen Drachen erschlug. Sankt Michael war der oberste Erzengel und führte die »himmlischen Heerscharen«, eine Art Engelsarmee, die Gott den Christen zu Hilfe schicken konnte. Seit dieser Zeit galt Sankt Michael als Schutzpatron der Deutschen.

Der Erfolg hat auch dazu geführt, dass der Papst Otto die Kaiserkrone anbot, die er im Jahr 963 erhielt. Damit konnte er einen Plan verwirklichen, den er wahrscheinlich von Anfang an verfolgte: seine Herrschaft mit der Karls des Großen auf eine Stufe zu stellen. Er hatte sich schon auf dessen Thron in der Pfalzkapelle zu Aachen gesetzt, dann den Titel des Kaisers errungen und schließlich auch den Beinamen »der Große« erhalten. Die Herrschaft Ottos des Großen, die mehr als drei Jahrzehnte andauerte, führte dazu, dass das deutsche Reich zum mächtigsten in ganz Europa wurde. Er konnte ihm nicht nur einige Gebiete östlich der Elbe und im Bereich des heutigen Tschechien anschließen, sondern auch Teile Frankreichs und Italiens gewinnen.

Letzteres war so wichtig, weil Italien ungeheuere Reichtümer besaß, Zugang zu den wichtigen Handelswegen im Mittelmeer bot und man nur in Rom vom Papst zum Kaiser gekrönt werden konnte. Das hieß aber auch für jeden zukünftigen deutschen Herrscher, der das wollte, über die Alpen nach Süden ziehen und die immer aufsässigen mächtigen Städte im Norden Italiens – Mailand etwa – zum Gehorsam zwingen, weitermarschieren und nach Rom gelangen und die hochnäsigen Römer dazu bringen, die Tore zu öffnen. Für fast vier Jahrhunderte ist das eine Aufgabe, die einen großen Teil der Energie der deutschen Könige fordert und sie davon abhält, andere wichtige Probleme zu regeln, und nicht jeder hatte dabei so viel Glück und so viel Geschick wie Otto.

Kurz vor seinem Tod hielt Otto zum Osterfest 973 eine prächtige Versammlung – einen »Hoftag«, wie man damals sagte – in Quedlinburg ab, bei dem nicht nur die Großen seines Reiches anwesend waren, sondern auch Abgesandte aus Dänemark, Polen, Böhmen, Russland, Bulgarien, Italien und Rom und sogar ein Gesandter aus Afrika. Der wichtigste Vertreter einer ausländischen Macht war allerdings der des Kaisers von Ostrom oder Byzanz, der eigentlich in Anspruch nahm, ganz allein das Erbe des alten römischen Reichs zu vertreten, und nun zugeben musste, dass der Kaiser in Deutschland das Oberhaupt aller Gebiete im mittleren und westlichen Teil Europas war. Dieser Vorstellung gemäß hatte sich Otto wie Karl zum »römischen« Kaiser krönen lassen. Das gefiel den Italienern und vor allem den Römern nicht besonders. Es war immer ein Stachel in ihrem Selbstbewusstsein. Als neue Römer wollten sie die Einwohner des kalten und nebeligen Landes jenseits der Alpen keinesfalls gelten lassen, sie nannten unsere Vorfahren, und keineswegs in freundlicher Absicht, »teutonici« – Teutonen –, wie den mächtigen Germanenstamm, der ihre Vorfahren das Fürchten gelehrt hatte, oder nach der lingua theodisca »teudisci« – »Deutsche«.

Fotos: König Heinrich begutachtet mit seinen Kriegern den Bau einer Burg zum Schutz gegen die Ungarn: 933 erlitten sie eine so vernichtende Niederlage, dass sie für zwei Jahrzehnte keinen größeren Vorstoß mehr wagten; Das Reich in der Zeit Heinrichs I.: Es umfasste lediglich die Herzogtümer Sachsen, Franken, Schwaben und Bayern. Dann kam Lothringen hinzu, und unter seinem Sohn Otto dem Großen die Königreiche Burgund und Italien. Außerdem gab es im Osten Gebiete, die man als Marken bezeichnete und die dazu dienten, die Grenze gegen die slawischen Völker zu schützen.