© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/15 / 09. Oktober 2015

„Hier wird nicht nur gestorben, sondern auch gelebt“
Hospizarbeit in Deutschland: Wo traurige Klischees und deprimierende Vorurteile einfach nicht passen
Elena Hickman

Wer will schon gerne ins Hospiz? „Für mich war es ein Geburtstagsgeschenk“, stellt Dominique Rehde sofort klar. Die kleine Frau mit den kurzen Haaren und dem starken Berliner Akzent ist an ihrem Geburtstag ins Diakonie-Hospiz Lichtenberg eingezogen – Diagnose: Krebs. „Ich hab mich richtig gefreut, hierher zu kommen“, erzählt Rehde und lehnt sich entspannt in ihrem Stuhl zurück. Der Tisch in ihrem Zimmer ist vollgestellt mit Bilder von Freunden und von ihrem Hund, überall stehen Blumen, und auf dem Bett liegt eine grüne Wolldecke. Düstere Stimmung hat hier keinen Platz. Im Gegenteil: Jetzt sei ihre schönste Zeit im Leben. „Es wird die kürzeste Zeit“, sagt Rehde und schiebt mit einem verschwörerischen Lächeln hinterher, „aber die intensivste.“ 

Rehde ist schon recht lange Gast im Hospiz, fast fünf Monate. Auf die Formulierung „Gast“ wird besonders wert gelegt, denn sie sind keine Patienten wie im Krankenhaus. „Im Schnitt sind die Gäste etwa 25 Tage hier“, erklärt Hospizleiter Pastor André-Sebastian Zank-Wins. Aber auch wenn die Gäste nur eine kurze Zeit im Hospiz verbringen, sie sollen sich dort wohlfühlen. „Geborgenheit ist das Wesentliche“, sagt der Leiter. Und was ihm noch viel wichtiger ist: „Die Menschen werden hier nicht über ihre Krankheit definiert.“

„Hier findet erst einmal Normalität statt“

Das merken auch die Gäste. „So eine große Familie hab ich noch nie gehabt“, freut sich Rehde und ergänzt liebevoll, „hier arbeiten sie alle miteinander“. Das wird auch jedem Besucher schnell klar, denn wer das Hospiz Lichtenberg betritt, steht direkt in einem weitläufigen Wohn- und Esszimmer. Am großen Tisch sitzen zwei Männer in Rollstühlen und frühstücken. Eine Mitarbeiterin räumt die Spülmaschine ein und unterhält sich dabei entspannt und fröhlich mit ihnen und dem Putzmann, der vorbeiläuft. Zwischen den Stühlen wuselt ein Hund durch. Es wirkt tatsächlich weniger wie eine Pflegeeinrichtung und mehr wie eine ungewöhnliche Kleinfamilie.

 „Es ist wichtig, daß Hospize sich in der Struktur ganz deutlich von Krankenhäusern unterscheiden“, betont Zank-Wins. Den Menschen soll trotz ihrer Krankheit ein ganz normaler Alltag ermöglicht werden. „Hier findet erst einmal Normalität statt“, sagt auch der Leiter vom Caritas- Hospiz Pankow, Joachim Müller. „Wir sagen den Menschen ja nicht: Jetzt bist du hier und mußt sterben – Pech gehabt, jetzt brauchst du ja nicht mehr so viel.“ Deutsche würden gerne feiern, erklärt Müller, und das ginge auch im Hospiz: „Es gibt keinen Grund, das den Betroffenen hier vorzuenthalten.“ Egal, ob das ein Osterfest oder eine Grillparty sei. Eine Einstellung, die sich auch in Lichtenberg zeigt: „Hier wird nicht nur gestorben, sondern auch gelebt“, erzählt Rehde.

Sie ist nicht der einzige Gast mit einer unheilbaren Krebsdiagnose. Etwa 95 Prozent der Menschen, die in ein Hospiz kommen, leiden an einer Tumorerkrankung, erklärt Müller. Aber es gibt noch andere Krankheiten, bei denen der Arzt irgendwann nicht mehr helfen kann. Wo sich die Lebenserwartung nicht mehr in Jahren, sondern in Tagen, Wochen oder wenigen Monaten ausdrückt: Aids beispielsweise, die Nervenkrankheit ALS oder komplexe Herz-, Kreislauf- und Nierenerkrankungen. Im Hospiz, sagt der Hospizleiter in Pankow, gehe es „um die Behandlung der Symptome der Krankheiten, wie Schmerzen, Übelkeit oder Depressionen“, nicht um deren Heilung.

Der Mensch soll in Würde sterben können. Das war auch der Wunsch von Rehde, nach zwei Runden erfolgloser Chemotherapie. „Hospizarbeit zielt immer darauf ab, alles dafür zu tun, daß Menschen selbstbestimmt in Würde – und zu Hause – versterben können“, erklärt Müller. Leider sehe die Realität häufig anders aus. Laut Befragungen wünschen sich 90 Prozent der Menschen, zu Hause zu sterben. Aber die letzten Daten von 2014 hätten gezeigt, sagt Müller, daß 47 Prozent aller Menschen in Krankenhäusern sterben. Nur jeder achte oder zehnte würde tatsächlich zu Hause sterben. Das liegt häufig am sozialen Umfeld der kranken Menschen, gerade auch der älteren: Sie sind alleinstehend, die Familie ist überfordert oder der Ehepartner ist vielleicht selbst schon alt und pflegebedürftig. „Familiäre Strukturen sind nicht mehr so wie früher, und unsere Gesellschaft kommt häufig an ihre Grenzen“, bemerkt Pastor Zank-Winks. Deshalb seien Netzwerke um so wichtiger. Erst wenn die Pflege zu Hause nicht mehr geleistet werden kann, kommt ein Mensch ins Hospiz.

Für die Versorgung von unheilbar kranken Menschen gibt es auch eine rechtliche Grundlage, festgelegt im Sozialgesetzbuch. Es besteht der Rechtsanspruch auf eine „Spezielle Ambulante Palliative Versorgung“ (SAPV), die sowohl ärztliche als auch pflegerische Versorgung beinhaltet und besonders im häuslichen Bereich zum Einsatz kommt. Aber diese SAPV-Teams sind noch lange nicht ausreichend vorhanden, gerade auch im ländlichen Bereich.

„Die Gesellschaft kommt häufig an ihre Grenzen“

Zusätzlich zu den SAPV-Teams engagieren sich auch viele Ehrenamtliche in der ambulanten und stationären Hospizarbeit. Das Hospiz Lichtenberg arbeitet derzeit mit etwa 80 ehrenamtlichen Mitarbeitern zusammen. Aber „Ehrenamtliche sind keine Hobby-Therapeuten oder Hobby-Seelsorger“, betont Pastor Zank-Wins. Sie würden kommen und Gesprächsbereitschaft, Unterstützung und Entlastung anbieten. Dafür werden Ehrenamtliche in einem Kurs gründlich geschult und vorbereitet.

Aber Hospizarbeit habe auch als Ziel, die Kranken wieder mehr in das Bewußtsein der Gesellschaft zu bringen, betont Müller, sie also nicht irgendwo an den Stadtrand abzuschieben und das Thema Sterben totzuschweigen. Das sei auch das ursprüngliche Ziel von Hospizarbeit gewesen. Menschen sollten sich wieder daran erinnern, fordert er, daß „ich nicht Hilfe von anderen erwarten kann, wenn ich selbst nicht bereit bin, Hilfe zu geben“. Angehörige müßten wieder ihre Verantwortung wahrnehmen und nicht einfach dem Staat die kranke Mutter oder den kranken Vater abgeben.

Aber wie halten Hospiz-Mitarbeiter es aus, regelmäßig mit Sterben und Tod konfrontiert zu werden und dabei nicht zu verzweifeln? „Ich komme nach Hause und hab das Gefühl, was Sinnvolles und Gutes getan zu haben“, erklärt der Hospizleiter von Lichtenberg. „Ich kann die Menschen zwar nicht retten, aber mit meiner Arbeit kann ich es für sie besser machen.“ Interessanterweise sei die Arbeitszufriedenheit im palliativen Bereich sehr groß, im Gegensatz zu Angestellten im Pflegeheim.

„Die kleinen Dinge werden wichtiger“

Zank-Wins hat auch gemerkt, wie sich mit der Zeit seine Werte im Leben verändert haben: „Die kleinen Dinge werden wichtiger.“ Der dicke BMW sei es beispielsweise nicht mehr. Dabei gehe es aber nicht darum, entweder als Trauerkloß durch die Gegend zu laufen oder von einem Event zum nächsten zu rennen, sondern einfach das Leben lebenswert zu machen und die kleinen Dinge hervorzuheben. „Das Leben ist geschenkte Zeit, die man auch vertun kann“, stellt er fest.

Rehde erzählt, wie vor einiger Zeit gleich mehrere Gäste im Hospiz kurz hintereinander starben. Das habe sie natürlich schon mitgenommen. Wer selbst im Hospiz lebt, bleibt von so etwas nicht unberührt. Aber „ich konnte die Mutter von einem Jungen trösten“, erinnert sich Rehde und ist dankbar, selbst in ihrer Situation noch eine Hilfe für andere sein zu können.

Sie hat Tage, da geht es ihr schlechter als an anderen. Dann bleibt sie auf ihrem Zimmer und ruht sich aus, anstatt in den Gemeinschaftsraum oder in den Park zu gehen. Aber selbst an den schlechten Tagen „braucht man hier keine Schmerzen zu haben“, winkt sie gelassen ab.

Eine verständliche Angst von vielen. Sie wollen nicht mit Schmerzen sterben, oder alleine. Ein Grund, weshalb manche Kranke dann auch über Sterbehilfe nachdenken. Dieses Signal oder dieser Wunsch müsse ernst genommen werden, sagt Müller, aber gleichzeitig sollte auch nachgefragt werde, warum der Betroffene diesen Wunsch äußert. „Und da stellen sich dann schnell Ängste heraus“, berichtet Müller. Eben die Angst vor zu vielen Schmerzen, vor dem Alleinsein, nicht mehr wahrgenommen zu werden, vor der Nutzlosigkeit. Genau an dieser Stelle „setzt die Hospizarbeit an und bietet Angebote, die diese Ängste nehmen“, sagt der erfahrene Leiter und erklärt: „Die hier ankommen, äußern diesen Wunsch eigentlich nicht mehr.“ Eine Erfahrung, die auch Hospizleiter Zank-Wins bestätigen kann: „Wenn die ‘Rahmenbedingungen’ verbessert werden – also die Ängste genommen werden – wollen viele keine Sterbehilfe mehr in Anspruch nehmen.“

In ihrem Zimmer, zwischen den vielen Bildern und Blumen, bleibt Rehde fröhlich und gelassen – und auch irgendwie unberührt von den vielen Ängsten. „Ich bin gespannt auf das, was kommt“, sagt sie mit einem ruhigen Blick und fester Stimme, „aber Angst habe ich keine.“





Hospiz

Die moderne Hospizbewegung und Palliativmedizin begann mit der englischen Ärztin Cicely Saunders (1918–2005), die 1967 das St. Christopher’s Hospice in London eröffnete. Von dort breitete sich die Hospizbewegung aus, bis auch in den achtziger Jahren in Deutschland die ersten Einrichtungen entstanden. Inzwischen gibt es hier rund 1.500 ambulante Hospizdienste, 228 stationäre Hospize (davon 14 für Kinder und Jugendliche) und etwa 250 Palliativstationen in Krankenhäusern (Stand 2014). Rund 270 SAPV-Teams (Spezielle Ambulante Palliative Versorgung) sind derzeit in der Republik verteilt, hauptsächlich aber in den Städten. Die Hospizarbeit in Deutschland wächst kontinuierlich, etwa 100.000 Menschen engagieren sich in der Bewegung, viele davon ehrenamtlich.

Die Kosten für eine stationäre Hospizversorgung werden zu 90 Prozent von der jeweiligen Kranken- und Pflegekasse gedeckt (95 Prozent bei stationären Kinderhospizen). Die restlichen zehn Prozent übernimmt das Hospiz beziehungsweise der Träger – wobei sich viele Hospize durch Spenden finanzieren. Seit einer Gesetzesänderung im Jahr 2009 sind Betroffene von einem Eigenanteil befreit.