© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/15 / 09. Oktober 2015

Zeitschriftenkritik: Gehirn und Geist
Wie Mächtige die Massen lenken
Karlheinz Weißmann

Nudging“ ist kein gängiger Begriff im Deutschen. Noch nicht, könnte man vermuten, oder bezeichnenderweise nicht. Denn das „Anschubsen“ mittels subtiler psychologischer Tricks ist selbstverständlich längst gang und gäbe, nicht nur in der Werbung, sondern auch im Rahmen politischer Machtausübung, und die Wirksamkeit hängt ganz wesentlich davon ab, daß der „Stoß“ unbemerkt bleibt.

Woher dieses Konzept kommt – aus der Verhaltens-ökonomie – und welche Anwendungsmöglichkeiten es gibt – ausgesprochen breite –, ist Hauptthema der neuen Ausgabe von Gehirn und Geist (10/2015,). Dieser Ableger der renommierten Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft beschäftigt sich mit allen möglichen Aspekten des menschlichen Denkens, vor allem soweit es um dessen biologische Basis geht. Und in Zeiten, in denen das Gesellschaftssystem unter Druck gerät, ist es selbstverständlich von Interesse, welche Mittel den Mächtigen zur Verfügung stehen, um die Massen zu lenken. Wie man dem Text von Sarah Zimmermann entnehmen kann, gibt es eine ganze Palette an Möglichkeiten. Die reicht von kleinen Kniffen, mit denen der menschliche Spieltrieb angeregt wird, um die Bewegungsfreude träger und übergewichtiger Bürger zu erhöhen, über den subtilen Einsatz von Farben und Tönen, um das Kaufverhalten zu lenken, bis zu massiven Eingriffen, um politisch inkorrekte Haltungen durch Prangerwirkung und das Erregen von Schuldgefühlen zu korrigieren.

Ein interessanter Ausgangspunkt ist dabei die „magische Anziehungskraft“ des Status quo, von der die Autorin spricht. Wenn man zum Beispiel den Kunden eines Stromanbieters ein umweltfreundliches Netz als Alternative zum herkömmlichen anbietet, wählen das 60 Prozent; wenn man eine entsprechende Voreinstellung zugunsten der ökologisch einwandfreien Variante festlegt, erhöht sich der Anteil auf 80 Prozent. Die Abwahl wäre zwar ohne Schwierigkeiten und ohne Sanktionen fürchten zu müssen möglich, aber sie scheint trotzdem schwerzufallen.

Was die Wirksamkeit des Nudging angeht, sind eindeutige Aussagen trotzdem problematisch. Und neben Zweifeln an der Effizienz gibt es auch unter beteiligten Wissenschaftlern mehr oder weniger starke ethische Vorbehalte gegen den Einsatz. Auch aus diesem Grund darf der Aufbau einer dreiköpfigen „Nudging-Einheit“ durch die Bundesregierung im März dieses Jahres zu denken geben. Man orientiert sich damit einmal mehr an angelsächsischen Vorbildern, bestreitet allerdings die Absicht, „Politik mit Psychotricks“ (Süddeutsche Zeitung) zu treiben. Beeindrucken lassen muß man sich von dem Dementi nicht. Nudging paßt schließlich sehr gut zu einem konsensfixierten Regierungsstil, der auf gar keinen Fall offene Debatten wünscht, sondern den Leviathan am liebsten als wohlwollendes, behütendes und nur mit sanfter Hand lenkendes Schoßtier präsentieren möchte.

Kontakt: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Slevogtstraße 3-5, 69126 Heidelberg. Tel.: 0 62 21 / 91 26-600. Das Einzelheft kostet 7,90 Euro, ein Jahresabo 85,20 Euro.

 wwww.gehirn-und-geist.de