© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/15 / 09. Oktober 2015

Bewundernde Blicke auf die Eidgenossen
Schweiz: 1315, 1515, 1815 und 2015 – Viel verbindet, einiges trennt uns von den Nachbarn im Süden, doch die Affinität bleibt bestehen
Karlheinz Weissmann

Im Gefühlsleben vieler Deutscher nimmt die Schweiz eine ähnliche Stellung ein wie Schweden: der Heimat ähnlich und also vertraut, in vielem komfortabler, darob beneidet, aber nicht zu sehr, denn auch geschlagen mit einer gewissen Langweiligkeit, ein bißchen zuviel Postkartenidyll, weshalb es nur für die Urlaubszeit den einen ins Tessiner Hotel, den anderen ins skandinavische Blockhaus zieht. 

Mit der historischen Dimension hat diese Affinität nichts zu tun. Die Beziehung Schwedens zum alten Reich spielt so wenig eine Rolle wie die Tatsache, daß die Schweiz für lange Zeit ein Teil Deutschlands war. Daß der „Tell“ des deutschen Dichters Schiller ganz selbstverständlich Eingang in die Nationalmythologie der Schweiz fand, ist so unbekannt, wie daß bis in den Völkerfrühling des 19. Jahrhunderts bei dem jungen Schweizer Jacob Burckhardt oder den Schriftstellern Carl Spitteler, Gottfried Keller und Jeremias Gotthelf die Hoffnung lebte: „Es kommt der Tag, da wird gespannt / Ein einig Zelt ob allem deutschen Land.“

Zu dem Zeitpunkt war solche Sehnsucht längst romantisch, Träumerei von einem Gesamtdeutschland, das tatsächlich bis an Maas, Memel, Etsch und Belt reichen würde. Die gemeinsame Geschichte lag schon zweihundert Jahre zurück. 1648, mit dem Westfälischen Frieden und dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, schied die Eidgenossenschaft faktisch aus dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Die Fäden, die die eine mit dem anderen verknüpft hatten, waren zu dem Zeitpunkt nur noch dünne und mehr als einmal bis zum Zerreißen gespannt worden. 

Nach dem Zerfall des Karolingerreiches schien die Zugehörigkeit des größeren Gebietes der späteren Schweiz zu Ostfranken, dann zum deutschen Reich noch unbestritten. Aber bis zum Ende des 13. Jahrhunderts gelang es den ersten Kantonen, sich eine Reihe von Privilegien zu sichern, die wesentlich mit der Bedeutung des Gotthardpasses zu tun hatten, den die deutschen Herrscher für ihre Italienzüge sichern wollten. 

1291 schlossen die drei sogenannten „Waldstätte“ – Uri, Schwyz und Unterwalden – einen „Ewigen Bund“, der die eigentliche Keimzelle der Eidgenossenschaft bildete; der Legende nach leistete man den berühmten Schwur, der den Zusammenschluß begründete, auf dem Rütli, einer gerodeten Fläche am Vierwaldstätter See. Der letzte Unterwerfungsversuch mit Aussicht auf Erfolg scheiterte schon 1315. In der Schlacht bei Morgarten besiegte das Aufgebot der Kantone das gegnerische Ritterheer der Habsburger.

Träume von einem Gesamtdeutschland 

Dieser Vorgang war deshalb so bemerkenswert, weil im Grunde nicht zu erwarten stand, daß die Bauernrepubliken in der Lage sein würden, ihre Unabhängigkeit militärisch zu verteidigen. In vieler Hinsicht hatten sich hier ähnlich wie unter den mittelalterlichen Friesen oder Stedingern archaische Verfassungsformen erhalten. Das, was Montesquieu über die Freiheit sagte, die in den Wäldern Germaniens geboren wurde, fand durch die Eidgenossenschaft, also die beschworene Einheit der Waffenfähigen, seine Bestätigung. 

Während sonst der Gemeine längst in die Abhängigkeit adliger Herren geraten war, gab es hier noch thingartige Versammlungen, in denen freie Männer das Wort ergreifen und über das Schicksal ihrer Gemeinschaften bestimmen konnten. Damit ging allerdings auch eine gewisse Labilität der politischen Ordnung zusammen, eine besondere Anfälligkeit für äußere Einflußnahme. Existenzgefährdend wurde die für die Eidgenossen aber anders als für Friesen und Stedinger nicht. Ihnen gelang es außerdem, die Unterstützung der aufstrebenden Städte – Luzern, Zürich, Glarus, Zug und Bern – zu gewinnen. 

Im 14. und 15. Jahrhundert setzten sich die acht „Orte“ jedenfalls nicht nur gegen habsburgische, sondern auch gegen burgundische und schließlich französische Begehrlichkeiten erfolgreich zur Wehr. Spätestens bei Ende des sogenannten „Schwabenkriegs“, 1499, war die Trennung vom Reich eine Tatsache. Die Beschlüsse von 1648 bildeten lediglich den formellen Schlußakt.

Zu dem Zeitpunkt waren allerdings auch die Versuche der Eidgenossenschaft gescheitert, ihrerseits Außenpolitik im großen Stil zu treiben. Von den eigenen Erfolgen – insbesondere der Vernichtung des mächtigen Herzogtums Burgund – und dem Ruf der Unbesiegbarkeit verführt, hatte man nicht nur auf savoyardisches, sondern auch italienisches Gebiet auszugreifen versucht. In der Schlacht bei Marignano, 1515, erlitten die Schweizer aber eine so empfindliche Niederlage gegen Frankreich, daß sie sich im „Ewigen Frieden“ von 1516 zum „Stillsitzen“, das heißt dauernder Neutralität, verpflichteten. 

Man darf diesen Vorgang, der das Selbstverständnis der Schweiz bis heute prägt und ihre Stellung nach außen im wesentlichen festlegt, aber nicht so mißverstehen, als ob die weitere Entwicklung ohne Probleme und revolutionäre Störungen abgelaufen wäre. 

Geistige Landesverteidigung schützt die Unabhängigkeit 

Innere Konflikte brachen immer wieder auf. Die nahmen ihren Anfang mit der Reformation, die nicht nur zur Etablierung des evangelischen Bekenntnisses in einer Reihe von Kantonen führte – Genf galt als „Rom des Calvinismus“ –, sondern auch zur konfessionellen Spaltung des Landes. 

Es folgten dauernde Auseinandersetzungen, in denen es um Glaubensfragen, um die Binnenstruktur der Eidgenossenschaft und das Verhältnis zwischen Bund und einzelnen Kantonen, um das Auseinandertreten der prosperierenden Städte und des zurückbleibenden Landes und um die Frage ging, welcher Kanton welchen Einfluß nahm und in welche Beziehung man zu den Nachbarn trat.

 Der Bestand des Gemeinwesens war aber nur noch einmal und für kurze Zeit – in der Phase der Französischen Revolution – grundsätzlich bedroht; bei der Neuordnung Europas durch die Staaten des Wiener Kongresses 1814/15 restaurierte man auch die alte Verfassung, und fortan garantierten die Großmächte den neutralen Status der Schweiz.

Dann griff die Unruhe des Vormärz auch auf die Schweiz über, und es bedurfte immerhin eines Bürgerkrieges – des Sonderbundkrieges von 1847 –, um aus der losen Föderation der Kantone einen funktionstüchtigen Bundesstaat zu machen. In der Folge führte die Industrialisierung wie im übrigen Europa zu massiven sozialen Verwerfungen, und auch die Neutralität konnte nicht verhindern, daß die Schweiz die Ausläufer des Europäischen Bürgerkriegs zu spüren bekam. Die politische Radikalisierung ging zwar nicht bis zum letzten, aber die Sorge vor einer Ansteckung durch die mächtigen politischen Strömungen aus den angrenzenden Ländern war stark. 

Viele Affekte, die bis heute die Beziehung der Schweiz zu Deutschland belasten, gehen auf jene „Geistige Landesverteidigung“ zurück, die neben die Anstrengungen zum militärischen Schutz trat, um die Unabhängigkeit der Schweiz gegen Hitlers „Neues Europa“ zu schützen. Dabei sollte das kollektive Selbstbewußtsein vor allem durch die Betonung der Eigenständigkeit und Distanz gegenüber Deutschland gestärkt werden.

Der Schweizer Armin Mohler hat die Nachkriegsdeutschen deshalb immer wieder vor der Annahme gewarnt, daß man ihnen in seiner Heimat mit demselben Wohlwollen begegne, wie es der Bundesrepublikaner den Eidgenossen entgegenbrachte. Er amüsierte sich gleichermaßen über die hierzulande verbreitete Idee, alle Schweizer beherrschten fließend dreierlei oder viererlei Sprache (Schweizerdeutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch) wie über das fehlende Verständnis für das geschichtlich bedingte Überlappen der Regionen, etwa im Alemannischen zwischen dem oberdeutschen, dem elsässischen und dem Baseler Gebiet, das so gar nichts mit säuberlichen nationalen Abgrenzungen zu erklären ist. 

Entsprechende Äußerungen hatten bei Mohler immer mit der Sympathie für sein Wahlvaterland zu tun – aber auch mit der Reserve gegenüber dem, was er „Verschweizerung“ nannte: dem vor allem in der Adenauerzeit mächtigen Wunsch der Deutschen, sich endlich aus der Geschichte in den Windschatten zurückziehen zu dürfen, so wie es der Schweiz gelungen war, zufrieden mit Ruhe, Ordnung, Wohlstand und Gediegenheit, während um einen herum die anderen jene Händel austragen, die nur Wunden schlagen und nichts einbringen. 

Interessanter Mix aus Freiheit und Tradition

Diese vor allem in bürgerlichen Kreisen verbreitete Sehnsucht hat sich heute bis zu einem gewissen Grad erledigt – oder ist bloß noch erhalten im Schielen auf den harten Schweizer Franken und einen jener raren Arbeitsplätze, die die Schweiz für hochqualifizierte Migranten bereitstellt.

In den Vordergrund ist bei der politischen Einschätzung der Schweiz aber ein anderes Bild gerückt. Das erklärt sich ganz wesentlich aus dem anhaltenden Erfolg der Schweizerischen Volkspartei (SVP) und den hilflosen Wutausbrüchen, die der im Mainstream und auf der Linken provoziert. Dabei greift zu kurz, die SVP als eine jener populistischen Gruppierungen zu betrachten, die seit zwei Jahrzehnten in allen europäischen Ländern auftreten.

 Die Volkspartei ist wirklich das, was ihr Name sagt, keine Ansammlung von Protestwählern und Frustrierten, sondern eine Repräsentation all derjenigen Schichten, die das Gemeinwesen tragen, Arbeiter, Bauern und Mittelstand vor allem. Daß das Establishment im eigentlichen Sinn und die Intelligenz – Ausnahmen bestätigen die Regel – abseits bleiben, versteht sich von selbst. Allerdings ist deren Geringschätzung mittlerweile auch Geschichte, was auf die Mobilisierungskraft der SVP zurückzuführen ist. Vor allem dann, wenn es ihr wieder einmal gelingt, das in der Schweiz traditionell starke Element der Volksabstimmung zu nutzen. 

Heute zieht in Deutschland diese Mischung aus Freiheitssinn und Traditionsbewußtsein bewundernde Blicke auf sich. Dabei könnte man sagen, daß das eine wie das andere – der Altliberalismus und die konservative Demokratie – zum gemeinsamen und mithin auch zum eigenen Erbe gehören.





Markante Jahrestage 

1315 

In der Schlacht bei Morgarten besiegte das Aufgebot der Kantone das Ritterheer der Habsburger. Der 1291 durch Uri, Schwyz und Unterwalden geschmiedete Ewige Bund, der die Keimzelle der Eidgenossenschaft bildet und die Rückgewinnung alter Autonomierechte verfolgte, erhielt seine Bestätigung.

1515 

Großmachtträume, die nach der Vernichtung des mächtigen Herzogtums Burgund dazu führten, italienisches Gebiet anzugreifen, scheitern mit der Schlacht bei Marignano. Die Schweizer erlitten eine so empfindliche Niederlage gegen Frankreich, daß sie sich zu dauernder Neutralität  verpflichteten.

1815

Bei der Neuordnung Europas durch die Staaten des Wiener Kongresses 1814/15 restaurierte man auch die alte Verfassung. Fortan garantierten die Großmächte zudem den neutralen Status der Schweiz sowie die Vollständigkeit und Unverletzlichkeit des schweizerischen Territoriums.