© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/15 / 09. Oktober 2015

Ein neues 1618?
Syrien: Weil viele Konfliktparteien mitmischen, droht dort ein Dreißigjähriger Krieg
Martin van Creveld

An dieser Stelle eine kleine historische Auffrischung für diejenigen, die es vielleicht vergessen haben: Der Dreißigjährige Krieg begann im Mai 1618, als die protestantischen Stände in Böhmen gegen den katholischen Kaiser Ferdinand II. rebellierten und seine Gesandten aus den Fenstern des Palastes in Prag warfen. Wäre diese Rebellion lokal geblieben, hätte sie schnell unterdrückt werden können und nicht zu den furchtbaren Ergebnissen geführt, die daraufhin geschahen. 

Stattdessen hat sie sich weiter und weiter ausgebreitet. Zuerst wurden die Ungarn mit hineingezogen, dann die Osmanen, Spanier, Dänen, Schweden und zuletzt die Franzosen. Viele kleine europäische Staaten, Städte und mehr oder weniger unabhängige Raubritter stellten Milizen und beteiligten sich an dem, was schließlich in ein wildes Chaos und Anarchie führte. Als der Westfälische Friede von 1648 die Kämpfe endlich beendete, war ungefähr ein Drittel der Bevölkerung Deutschlands hinweggerafft worden. 

Die Ähnlichkeiten zum aktuellen Krieg in Syrien sind offensichtlich. Auch der begann mit einer Rebellion gegen einen Herrscher und seine Regierung. Dieser hatte, wie böse er auch sein mag, alles mehr oder weniger unter Kontrolle gehalten. Zuerst waren es verschiedene „liberale“ syrische Parteien – ob es so etwas gibt, mag dahingestellt sein –, die versuchten, Baschar al-Assad loszuwerden. Als nächstes stellte sich heraus, daß einige dieser Parteien nicht liberal, sondern islamistisch waren und Teil einer viel größeren Bewegung, die aus dem Irak stammte und unter der Abkürzung IS bekannt war. Dann wurde die Hisbollah mit hineingezogen, die teilweise als verlängerter Arm von Assad agiert; und dann der Iran, welcher schon seit langem die Hisbollah gegen Israel unterstützt. Erstere sandte Kämpfer, der zweite Berater und Waffen. 

Aber selbst das war nur der Anfang. Die Kurden, deren Gebiete sowohl in Syrien als auch im Irak liegen, leckten Blut und versuchten die Gelegenheit zu nutzen, ihren eigenen Staat zu errichten. Das rief natürlich die Türken auf den Plan, die verhindern wollten, daß sich „ihre“ einheimischen Kurden den Brüdern in Syrien anschließen. Deshalb fingen die Türken an, die Kurden zu bombardieren – und um Obama zufriedenzustellen, warfen sie auch noch ein paar Bomben auf den IS ab. 

Die Amerikaner trainierten unterdessen einige „liberale“ Milizen, jedoch ohne Erfolg. (Amerikanische Ausbilder hatten dabei genausowenig Erfolg in Syrien wie ihre Vorgänger in Vietnam, im Libanon, in Afghanistan oder im Irak; überraschenderweise lernen sie aber nichts aus ihren Fehlern). Als nächstes beteiligten sie sich dann an den Auseinandersetzungen – allerdings nur in Form von Drohnen-Angriffen, die mehr oder weniger nutzlos sind. Die Russen wollen Assad unbedingt an der Macht halten und begannen Luftangriffe gegen manche, aber nicht alle Milizen zu fliegen. Die Franzosen, fest entschlossen, wer weiß was zu erreichen, taten dasselbe. Wer den Konflikt anheizt, sind die Saudis. Zu feige, ihre nutzlose Armee in den Kampf zu schicken, versuchen sie Assad loszuwerden, indem sie dessen Feinde finanziell massiv unterstützen.

Weil so viele Interessen – heimische wie ausländische – vertreten werden, scheint ein Ausweg nicht in Sicht zu sein. Ein Ergebnis kann momentan genausowenig vorhergesehen werden, wie etwa 1622 ein Ende des Dreißigjährigen Krieges. Tatsächlich gibt es gute Gründe, davon auszugehen, daß die Kämpfe gerade erst begonnen haben. Zusätzlich könnten Akteure wie der Libanon oder Jordanien mit hineingezogen werden. Und das wiederum wird ziemlich sicher Israel mit auf den Plan rufen. Manche Israelis träumen tatsächlich von einem solchen Szenario; sie hoffen, daß es ihnen eine Möglichkeit gibt, die Palästinenser aus dem Westjordanland zu werfen und nach Jordanien zu schicken. 

Allerdings ist das Zukunftsmusik. In der momentanen Lage werden die größten Verlierer wahrscheinlich Syrien und der Irak sein – beide existieren kaum noch als organisierte Entitäten. Der größte Gewinner dürfte Iran sein. Ohne einen Finger rühren zu müssen, schauen die Mullahs zu, wie das gesamte riesige Gebiet zwischen dem Persischen Golf und Latakia an der östlichen Mittelmeerküste in einen Strudel von Interessenkonflikten gerät, mit dem sie spielen können. Genausowenig tut es ihnen leid, wenn sie dabei zusehen können, wie sich Türken und Kurden gegenseitig umbringen.  

Letztendlich wird, wie schon von 1618 bis 1648, das größte Opfer die Zivilbevölkerung sein. Nicht nur die syrische, sondern auch die im Irak, wo IS-Kämpfer sowohl die dortigen Kurden bekämpfen, als auch jene bunt zusammengewürfelte Truppe, welche als irakische „Armee“ ins Feld geführt wird. Die Flüchtlingszahlen werden in die Millionen steigen. Viele, die nichts mehr zu verlieren haben, werden ihr Leben weiterhin beim Versuch riskieren, Europa zu erreichen. Wenn sie ankommen, werden zumindest manche von ihnen den Salafisten beitreten und sich dem Terrorismus zuwenden. Kann der Terrorismus nicht eingedämmt werden, wird dies nicht nur zunehmend mit Extremismus, dem Verlust von Bürgerrechten oder dem Zusammenbruch der Demokratie beantwortet werden – was bereits anfängt, – sondern wiederum auch mit Terrorismus.  

Und wem wird jeder die Schuld zuschieben? Natürlich Israel. Aber das ist etwas, an das wir Israelis und Juden gewöhnt sind.






Prof. Dr. Martin van Creveld gilt als einer der renommiertesten Militärhistoriker, beriet die Streitkräfte verschiedener Nationen und lehrt heute an der Universität Tel Aviv.