© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/15 / 02. Oktober 2015

Nur eine schöne Seifenblase
Der Journalist Martin Winter ist ein überzeugter Europäer, und er sieht schwarz für die Zukunft der EU
Peter Seidel

Nach den Sozialfonds (1958) wurden der Europäische Fonds für regionale Entwicklung und der Kohäsionsfonds – beide Anfang der siebziger Jahre – geschaffen. Über diese Fonds flossen allein zwischen 2000 und 2013 rund 700 Milliarden Euro in jene Gebiete und Länder, die wirtschaftlich hinterherhinken. (...) Das System der Fonds (...) hat nichts bewirkt, (...) sondern politische und wirtschaftliche Lethargie verstärkt.“ Denn: „Den Mangel an Reformen und struktureller Modernisierung kann man nicht mit Geld ausgleichen, sondern nur für eine kurze Weile übertünchen. Danach aber wird es schlimmer denn je.“ Was sich hier wie ein aktueller Kommentar zu den jüngsten französischen Forderungen – über den neuen Juncker-Fonds (2015) hinaus – zu einer EU-Wirtschaftsregierung anhört, stammt in Wahrheit aus dem Jahr 2014, genauer gesagt aus dem neuen Buch des ehemaligen Brüssel-Korrespondenten Martin Winter, das allerdings erst in diesem Jahr erschienen ist. Es trägt den Titel „Das Ende einer Illusion. Europa zwischen Anspruch, Wunsch und Wirklichkeit“.

Winter, der zwei Jahrzehnte für Frankfurter Rundschau und Süddeutsche Zeitung gearbeitet hat, geht intensiv auf das Thema EU-Wirtschaftsregierung ein und verweist auf die Skepsis Helmut Schmidts, die dieser dazu schon 1974 und erneut 2013 angesichts der unterschiedlichen Wirtschaftspolitiken in Europa geäußert hatte, und kommentiert zustimmend: „Die ökonomische Staatsgläubigkeit der Franzosen und die Soziale Marktwirtschaft der Deutschen sind nur begrenzt kompatibel.“ Alle bisherigen Versuche zu einer europäischen Wirtschaftspolitik seien mithin gescheitert. 

Der langjährige Auslandskorrespondent weiß: „Die EU war und ist schon lange eine Transferunion“, die Diskussion darum eine „Scheindebatte“. Was Winter aber 2014 noch nicht so absehen konnte, ist, daß durch die neuen französischen Vorschläge ein Umschlag von der Quantität in die Qualität droht und die Eurokrise zu einer beträchtlich ausgeweiteten Daueralimentierung des Südens genutzt werden soll. Die EU will weiter den von Winter beschriebenen Weg gehen, fundamentale Probleme mit noch mehr Geld zu „bekämpfen“. Und genau dies ist der ideologische Kern der heutigen Diskussion zur „Vertiefung“ der Währungsunion. 

Winter ist vorgeworfen worden – ausgerechnet von Wissenschaftlern –, den „ideologischen Faktor“ der deutschen Europapolitik mit seinem realistischen Ansatz geringzuschätzen. Das ist nun wirklich ein signifikanter Hinweis. Sollte nicht sowohl journalistische Berichterstattung wie wissenschaftliche Analyse der Wahrheit verpflichtet sein? Warum wird das kritisiert? Hat Winter mit seinem Buch vielleicht gegen etwas verstoßen, das anderen in Fleisch und Blut eingegangen ist? Winter, der überzeugte Europäer, aber eben kein Hurra-Europäer? Der die meisten von deren Zielen zwar teilt, sie aber angesichts der Realitäten für nicht mehr realistisch hält? 

EU-Kommission wird zum verlängerten Arm von Paris

Winter schreibt über so aktuelle Themen wie die europäische Asylpolitik, die bisherigen Vorstöße zu einer Wirtschaftsregierung und nicht zuletzt zu einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Bestrebungen für eine „europäische Armee“, die der grüne Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer zuletzt zu Recht als „schöne Seifenblase“ eingeschätzt hat, sind mit fast 70 Seiten der deutliche Schwerpunkt, während die europäische Asylpolitik auf nur drei Seiten abgehandelt wird. Seine Hoffnung, eine europäische Asylpolitik könnte „das starke Gefälle zwischen den nationalen ‘Willkommenskulturen’“ beseitigen, das im grenzenlosen Europa einen Asyltourismus Richtung Nordeuropa beförderte“, dürfte sich aber gerade als wenig realistisch erweisen.

Leider fehlt dem Buch ein Anmerkungsapparat, und die Literaturauswahl dürfte jeden „Berufseuropäer“ erfreuen. Eindeutiger Schwerpunkt ist jedoch das Finanzgebaren in Brüssel. Dies zieht sich durch das ganze Buch, ebenso wie seine Kritik der europäischen Ideologie vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten, „einen disparaten Haufen zusammenzuhalten“. Das kam bisher eher selten vor, daß jemand gerade wegen seiner  berechtigten Sorge um die Einigung Europas Klartext schreibt. 

Dies gilt aktuell auch für die Frage, was zwischen dem EU-Rat der Finanzminister und dem folgenden Brüsseler EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs vor der Sommerpause passiert ist: Am Vortag eine große Mehrheit für den Grexit, beim Gipfel dann zu null gegen den Grexit. Was war in der Zwischenzeit geschehen? Hatte Frankreich aus einer Position der Schwäche heraus Stärke mobilisiert, gar ein Ultimatum gestellt? Wie sind vor diesem Hintergrund die neuen französischen Vorschläge zur Ausweitung und Institutionalisierung der Transferunion zu gewichten? Wie, daß die fünf EU-Institutionen wie Kommission, EZB usw. sich erst gemeinsam dafür aussprechen, das Thema nach den die Wahlen in Deutschland und Frankreich auf 2017 zu verschieben und sich jetzt doch einen Vorstoß zur Vergemein-schaftung der deutschen Einlagensicherungsfonds zuzutrauen? Wie, daß bereits jetzt darüber spekuliert wird, „ob Schäuble seinen Widerstand dagegen langfristig aufrechterhalten will“. Welcher Schaden für die europäische Idee daraus entsteht, wenn sich die EU-Kommission immer mehr zum verlängerten Arm von Paris und den Defizitländern macht, scheint bisher kaum jemanden zu kümmern. 

Wie bereits die lautstarke Kritik zeigt, hat Winter ein unbequemes Buch geschrieben, sozusagen unzeitgemäße Betrachtungen. Dem Werk ist eine weite Verbreitung zu wünschen. Gerade weil in Deutschland immer noch mehr Glauben in Politik gefordert wird als Analyse, wie der Staatsrechtler Christoph Möllers von der Humboldt-Universität betont: „Das Problem der deutschen Europadebatte ist ja, daß sie rein ideologisch geführt wird.“ Ein Ende der Illusionen? Darauf werden wir wohl noch eine geraume Weile warten müssen.

Martin Winter: Das Ende einer Illusion. Europa zwischen Anspruch, Wunsch und Wirklichkeit. Süddeutsche Zeitung Edition, München 2015, gebunden, 296 Seiten, 19,90 Euro

Foto: Riesige Seifenblase vor dem Neubau der Europäischen Zentralbank in Frankfurt: „Die EU war und ist schon lange eine Transferunion“