© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/15 / 02. Oktober 2015

25 Jahre Wiedervereinigung
Treulos gegen das Eigene
Thorsten Hinz

Der 25. Jahrestag der Wiedervereinigung am 3. Oktober weckt keinerlei Feierlaune. Er wirft vielmehr die Frage auf, was falsch gelaufen ist. 1990 wäre diese Vorstellung undenkbar gewesen. Niemand dachte daran, daß in historisch kurzer Zeit sich Hysterie, Depression und Endzeitstimmung über das Land legen. Damals wurde Geschichte gemacht beziehungsweise besiegelt, vor allem von den DDR-Bürgern, die die deutsche Einheit wollten und bekamen.

Weltweit wurden Mauerfall und Wiedervereinigung als historische Ereignisse, als Kulminationspunkte und Symbole eines epochalen Umbruchs empfunden. Großes schien sich zu vollziehen und noch Größeres anzukündigen: die Wiederherstellung der größten europäischen Nation als Staat. Die Rekonstruktion der europäischen Mitte. Das definitive Dementi des Jalta-Abkommens von 1945. Der Schlußpunkt einer 1914 begonnenen europäischen Schmerzensgeschichte. Die Rückkehr des Alten Kontinents, der fast 50 Jahre lang Aufmarschgebiet und Verfügungsmasse der Sowjetunion und der USA gewesen war, auf die Bühne der Weltpolitik. Und Deutschland, in der Mitte gelegen, würde als zentrale Macht und wichtigster Akteur gefragt sein.

Vom Hochgefühl ist wenig geblieben, was nicht nur an den Mühen der Ebene liegt. Sicher, das Ende der SED-Diktatur und die Bewegungsfreiheit für 17 Millionen Deutsche ist ein Wert an sich. Die im Verfall begriffenen Altstädte in Görlitz, Meißen, Quedlinburg, Stralsund, Weimar und so weiter wurden gerettet. Die Flüsse sind wieder sauber, das Schienennetz ist repariert, der Anblick der Dresdner Silhouette mit der wiederaufgebauten Frauenkirche betörend. Die Rentner in der Ex-DDR und die Kriegsopfer bekamen endlich eine anständige Rente. Man kann die Aufzählung beliebig fortsetzen.

Doch was zählt das noch angesichts der aktuellen Entwicklung? Wieder wird Geschichte gemacht, doch Deutschland ist kein Akteur, sondern ihr Erdulder und Schauplatz. Es geht nicht mehr nur um Nettobeiträge oder Hilfspakete. Es geht um alles, die Substanz steht auf dem Spiel. Die Massenzuwanderung aus der Dritten, insbesondere der muslimischen Welt stellt die Bundesrepublik als politische, kulturelle, geistige und als ethnische Entität – als Deutsch-Land – in Frage. Sie steht vor ihrer Verwandlung in eine beliebig aufzusiedelnde Immobilie und Verwaltungseinheit einer Neuen Weltordnung. Das Motto, das dem Feiertag verliehen wurde, lautet passenderweise: „Grenzen überwinden“.

Die politisch-mediale Klasse gefällt sich als Transmissionsriemen der Entwicklung. Sie signalisiert aller Welt, daß jeder das Recht habe, sich hier niederzulassen, jedenfalls nicht zurückgewiesen werden könne, und ein Anrecht auf Versorgung besitze. Umgekehrt heißt das, daß die indigenen Deutschen auf dem eigenen Territorium keine Definitionshoheit mehr genießen sollen, sondern die Veränderung ihrer Lebenswelt – meistens zum Negativen – nicht nur hinzunehmen, sondern auch zu finanzieren haben

 Die Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung teilt mit: „Wir stehen vor einem fundamentalen Wandel. Unsere Gesellschaft wird weiter vielfältiger werden, das wird auch anstrengend, mitunter schmerzhaft sein.“ Das klingt wie die Erklärung zu einem einseitig geführten Bürgerkrieg. Man denkt an den Bericht der Gräfin Dönhoff über ihre Flucht aus Ostpreußen, konkret an die Passage, in der sie die NS-Führung verflucht, die das eigene Volk dem Verhängnis ausliefert („an die Schlachtbank schmiedet“) und jedes Entrinnen verhindert.

Der Rechtsstaat bietet Freiraum für unterschiedliche Interessen. Der Maßnahmestaat versucht, die Menschen auf ein normiertes Verhalten, Sprechen und sogar Denken festzulegen. Wer die DDR erlebt hat, für den häufen sich die Déjà-vu-Erlebnisse.

Die protegierte Landnahme vollzieht sich nicht reibungslos. Sie geht einher mit der Transformation des Rechtsstaates zum Maßnahmestaat. Der Rechtsstaat eröffnet den Freiraum, in dem unterschiedliche Interessen und Ansichten miteinander konkurrieren. Der Maßnahmestaat versucht, die Menschen auf ein normiertes Verhalten, Sprechen und sogar Denken festzulegen. Wer mit wachen Sinnen die DDR erlebt hat, für den häufen sich die Déjà-vu-Erlebnisse. Statt lästiger Parteisekretäre sind es nun Frauen-, Gleichstellungs- und Integrationsbeauftragte, die in Firmen, Betrieben und Institutionen über die Einhaltung politischer Vorschriften und Sprachregelungen wachen.

Die Wachsamkeit der Demokraten eifert dem tschekistischen Vorbild nach. Die Denunziantenmentalität, die in der DDR im Verborgenen blühte, gedeiht heute öffentlich. Minderwertige Charaktereigenschaften werden als staatspolitisch wertvoll belohnt und die Bürger zu Komplizen der eigenen Herabwürdigung gemacht. Angesichts von Beschlagnahmungen, Zwangsbewirtschaftung, drohenden Zwangsanleihen und steigenden Abgaben lacht heute niemand mehr über den Spruch, mit dem der SED-Chef Erich Honecker 1989 für so viel Heiterkeit sorgte: „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf!“

Tragisch ist das Schicksal der jungen Männer, die in Bundeswehruniformen gesteckt wurden und am Hindukusch ihr Leben gelassen haben – angeblich im Kampf gegen den Islamismus für die Freiheit und Sicherheit Deutschlands. Gleichzeitig nimmt der deutsche Staat das Einsickern von Islamisten in Kauf und macht deren Drohpotential zum Maßstab seines Handelns: und zwar gegen diejenigen, die auf die Gefahr hinweisen. Lohnt es sich wirklich, das Leben für einen Staat in die Schanze zu werfen, der über keine innere Verteidigungslinie, keinen moralischen Halt, keinen Selbstbehauptungswillen mehr verfügt? Von dem unklar ist, wessen Interessen seine Politik bestimmen? Der sich gegen den eigenen Demos richtet? Auch das sind Fragen, die 1990 jenseits aller Vorstellung lagen, sich heute aber machtvoll aufdrängen.

Niemand hatte 1990 mit solcher Entwicklung gerechnet. Deutschland galt als mittlerer Riese, der die europäische Tektonik neu justieren würde und – sollte er außer Rand und Band geraten – sogar den Weltfrieden gefährden könnte, weshalb er unbedingt in Bündnisstrukturen eingebunden werden mußte. Für derartige Potenz-Prophetien sprach die bundesdeutsche Erfolgsgeschichte, die sich vor allem mit dem sogenannten Wirtschaftswunder verbindet und in der Tat kaum glaublich ist: Ein total besiegter, zerstörter, verelendeter, von Millionen Ostvertriebenen überschwemmter und unter der Kuratel der Sieger stehender Teilstaat stieg innerhalb weniger Jahre zu einer der größten Industrie- und Handelsmächte auf und wurde eines der wohlhabendsten Länder der Welt. Seine ökonomische Kraft verschaffte ihm wieder politischen Einfluß, der zwar klar begrenzt und eingehegt war, aber ausreichte, die Deutsche Frage – die sämtliche europäischen Länder mit der Teilung am liebsten abschließend beantwortet gesehen hätten – offenzuhalten.

Die politische Intelligenz blieb jedoch hinter der wirtschaftlichen Entwicklung zurück. Sie genügte nicht, um die Deutsche Frage geistig auszuloten, das geteilte und politisch suspendierte „Deutschland“ als Gedankenmodell zu rekonstruieren und damit dem politischen Pragmatismus eine langfristige Orientierung zu geben. Der „besondere Kontrast zwischen Wohlstand der verfaßten Gesellschaft im Westen Deutschlands einerseits und demütigendem Ausgeliefertsein des politischen Subjektes ‘Deutschland’ andererseits“ wurde von den meisten Bundesbürgern auch gar nicht als belastend, sondern als erlösend empfunden: als Erlösung von der Politik, die in der Vergangenheit nur zu Verheerungen geführt hatte. Auch die Eliten machten „aus der Not eine Tugend“ und reduzierten – von Ausnahmen abgesehen – die Politik auf die Sphäre des „Gesellschaftlich-Wirtschaftlichen“ (Hans-Joachim Arndt).

Ein tragfähiges Staats- und Nationalbewußtsein ist nach 1990 nicht entstanden, alle schwachen Versuche dazu wurden sabotiert. Mit dem Ergebnis, daß die Bundesrepublik sich aktuell als die institutionalisierte Treulosigkeit gegen das Eigene darstellt.

In der DDR war es – unter härteren Bedingungen und auf geringerem Niveau – ähnlich: Der Soziologe Wolfgang Engler schrieb, die DDR-Bürger hätten viel Phantasie zur Bewältigung ihres Alltags entwickelt, ihre politische Phantasie aber verkümmern lassen. Man konnte auch sagen: Die Deutschen in Ost und West hatten die Mauer verinnerlicht.

Zu besagten – zweifelhaften – Tugenden zählen die Umdeutung und Ästhetisierung der Lage zu einer wünschbaren und vorbildhaften. Die Idee wurde populär, die Teilung als Buße für den Nationalsozialismus anzunehmen – was die evangelische Kirche in der DDR prompt aufgriff – oder die Bundesrepublik als den ersten postnationalen Staat zu verstehen. Andererseits galt die Identifikation mit den USA manchen Konservativen als Ausdruck besonderer Staatstreue und der Wahrnehmung deutscher Interessen.

Das alles zeugte vom gestörten Realitätsbezug und von geistigem Provinzialismus. Die „Mauer in den Köpfen“ benennt nicht bloß die Erfahrungsunterschiede zwischen Ost und West, sondern auch die Beschränkung der politischen Vorstellungskraft, die beiden Teilen gemeinsam war. Das Widerstreben vieler Westdeutscher gegenüber der Wiedervereinigung entsprang daher auch der untergründigen und begründeten Furcht, die Bundesrepublik würde ihr nicht gewachsen sein.

Der 3. Oktober 1990 markierte statt der Neu- oder Wiederbegründung des deutschen Nationalstaates die Ausweitung der bundesdeutschen Strukturen auf die DDR. Vom kleineren deutschen Staat gingen keine relevanten, zumindest keine sinnvollen Impulse für die staats- und außenpolitische Orientierung und auf die geistig-kulturelle Verfaßtheit des größeren aus. Das lag zum einen am schieren Größenunterschied, war aber auch Folge des SED-Regimes, das jeden Ansatz für Debatten jenseits des kommunistischen Machtdiskurses rigoros unterbunden hatte. So stand die DDR einschließlich der von einem dritten Weg träumenden, politisch unbegabten Bürgerrechtler mit leeren Händen da. Nach einem kurzen Freudentaumel über die neuen Freiheiten und den Besitz der D-Mark strebten die meisten danach, sich möglichst schnell und geräuschlos in die neuen Gegebenheiten einzufügen. Soweit sich ein politischer DDR-Eigensinn manifestierte, klammerte er sich organisatorisch und ideologisch an die SED-Nachfolgepartei.

So flossen die zwei deutschen Beschränktheiten mit katalytischer Wirkung ineinander, wobei, wie gesagt, die Bundesrepublik das verbindliche Dessin lieferte. Die Wahl der ehemaligen DDR-Bürger Angela Merkel und Joachim Gauck zur Kanzlerin beziehungsweise zum Bundespräsidenten hat diesen Anpassungsprozeß symbolisch und praktisch abgeschlossen.

Ein tragfähiges Staats- und Nationalbewußtsein ist nach 1990 nicht entstanden, alle schwachen Versuche dazu wurden unter dem Vorwand des „Kampfes gegen Rechts“ sabotiert. Mit dem Ergebnis, daß die Bundesrepublik, die als „Modalität der Fremdherrschaft“ (Carlo Schmid) ins Leben trat, sich aktuell als die institutionalisierte Treulosigkeit gegen das Eigene darstellt. Die territoriale Preisgabe, die sich gegenwärtig vollzieht, ist daraus die logische Konsequenz.

Doch sind solche Entwicklungen und ihre Folgen nie gänzlich steuer- und vorhersehbar. Das zeigen die überraschenden Weiterungen der Zivil- beziehungsweise „Holocaust-Religion“, die nach der Wiedervereinigung als Identitätsersatz implementiert wurde. Im 21. Jahrhundert hat der glaubensstarke Islam begonnen, die jüdische Opferrolle zu adaptieren, zu überformen und sich auf diese Weise wirkungsvoll gegen den Westen in Stellung zu bringen, was die Ursprungsintention des Religionssurrogats verblassen läßt. So wird in einer für Deutschland und Europa leider unvorteilhaften Weise demonstriert, daß die Geschichte offen ist – und es zumindest ein Quentchen Hoffnung gibt.






Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte in Leipzig Germanistik, war JF-Kulturredakteur und ist heute freier Autor. 2004 erhielt er den Gerhard-Löwen­thal-Preis für Journalismus. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Graben zwischen Pragmatikern und Systemkritikern („Es geht um Alternativen“, JF 33/15).

Foto: Feiernde Deutsche aus West und Ost beim Festakt vor dem Reichstagsgebäude in Berlin am 3. Oktober 1990: Vom Hochgefühl jener Nacht der Nächte ist wenig geblieben. Wie damals erleben wir Geschichte in Echtzeit. Aber heute fallen Entscheidungen, die an die Grundfesten unseres Volkes und Staates rühren.