© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/15 / 02. Oktober 2015

Gefühle am Steuerpult
Unterhaltsam: Der Animationsfilm „Alles steht Kopf“ aus dem Hause Pixar
Wolfgang Paul

Das Wort vom Widerstreit der Gefühle hat für alle, die „Alles steht Kopf“ gesehen haben, eine neue, anschauliche Bedeutung gewonnen. Denn in diesem 3D-Film treten fünf elementare Emotionen als Trickfilmfiguren auf, die im Kopf eines kleinen Mädchens um die Vorherrschaft streiten und sich dabei mitunter wie hemmungslose Kinder gebärden.

Das Werk kommt aus dem Hause Pixar, und dies allein ist schon ein Versprechen. Das von Steve Jobs gegründete Studio hat sich von Anfang an nicht nur als Vorreiter in Sachen Digitalisierung, sondern auch als Experte im Erzählen von besonders originellen und amüsanten Geschichten verstanden. „Toy Story“ war im Jahr 1995 nicht nur der erste lange Kinofilm, der komplett aus dem Computer kam, sondern überzeugte auch mit einem Feuerwerk an skurrilen Einfällen. Die lebendig werdenden Spielzeugfiguren waren, analog den Tieren bei Walt Disney, herzige Lebewesen, im Grunde die besseren Menschen. Wenn man so will, hat Pixar die Erbschaft von Disney angetreten. Werte wie Familie, Freundschaft und Mitgefühl für die Schwächeren standen bis zur Kitschgrenze (und manchmal auch darüber hinaus) für den konservativen Meister des Zeichentrickfilms immer an erster Stelle. So war 2006 der Zusammenschluß von Pixar mit der für ihre Verhältnisse erfolglos gewordenen Disney-Company eine logische Konsequenz.

Als John Lasseter, der führende Kopf von Pixar, bei der Präsentation des ersten „Toy Story“-Films auf der Berlinale 1996 nach einer Fortsetzung gefragt wurde, reagierte er sehr zurückhaltend. Man sei zur Zeit mit ganz anderen Projekten beschäftigt, wehrte er ab. Daß Jahre später dann doch zwei Fortsetzungen ins Kino kamen, war nicht nur eine ökonomische Entscheidung, sondern auch ein Zeichen für die kreative Kompetenz der Computer-Animateure. Die beiden Filme sind ebenso ideenreich wie der erste Teil, und wenn jetzt „Toy Story 4“ angekündigt wird, darf man sich schon mal auf eine weitere intelligente Komödie freuen. Denn ohne eine zündende, manchmal auch verwegene Idee ist noch kein Pixar-Projekt in Angriff genommen worden. Welches andere Hollywood-Studio hätte wohl eine Ratte zum unerkannten Sternekoch gemacht („Ratatouille“)?

Nun sind es also fünf Gefühle in einer Phantasiewelt, die weniger das Gehirn als unseren Verstand in kindgerechte Bilder umsetzen soll. Angst ist eine zittrige lila Gestalt, die sich um Rileys Sicherheit sorgt, die rote Wut hat einen stark ausgeprägten Sinn für richtig oder falsch, die grüne Ekel-Figur hat die Aufgabe, vor Vergiftung zu schützen, die blaue Kummer-Figur im grauen Pullover ist immer etwas schwermütig und müde, und Freude ist ein munteres Mädchen mit blauen Haaren. In jeder Situation steuern sie an einem großen Schaltpult Rileys Reaktionen, und da Riley ein optimistisches Kind ist, hat Freude zumeist das Sagen in der Kommandozentrale. Das bunte Treiben basiert zudem auf einer sorgfältigen Recherche der Filmemacher bei Verhaltensforschern und Psychologen.

Doch die Vorherrschaft der Freude wird auf eine harte Bewährungsprobe gestellt, als Rileys Familie aus einem kleinen Ort im Norden der USA nach San Francisco umzieht. In der Großstadt bekommt die kleine Riley Heimweh, gehören doch der Winter und Eishockey zu ihren glücklichen Erinnerungen. Auch diese sind bildlich dargestellt. Sie befinden sich in magischen Kugeln, die in großen Regalen im Langzeitgedächtnis aufbewahrt werden. Ihren Weg dorthin finden sie durch ein ausgeklügeltes Rohrsystem. Freude und Kummer geraten nun versehentlich in diese Rohrpost und werden aus der Kommandozentrale herauskatapultiert – mit gravierenden Folgen für Riley. Das Mädchen wird apathisch oder von Angst, Ekel und Wut beherrscht, was wiederum in den Köpfen der Eltern zu Problemen bei deren Gefühlsfiguren führt. Die Emotionskobolde von Mutter und Vater werden gefordert. Es herrscht Ratlosigkeit in allen Köpfen.

Rileys Freude und Kummer müssen also möglichst schnell zurück in die Kommandozentrale ans Steuerpult. Die Reise dorthin bildet den Hauptteil des Films, und es versteht sich von selbst, daß es eine wilde, spannende und vor allem lustige Jagd wird. Eine Jagd durch ein phantastisches, metaphorisches Universum mit einem Labyrinth von Regalen im Langzeitgedächtnis, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint, mit Persönlichkeitsinseln, die einzustürzen drohen.

Es gibt einen Ausflug ins abstrakte Denken, ins Unterbewußtsein und in die Traumfabrik, eine karikierende Szene von Dreharbeiten natürlich, wie es sich für einen Hollywoodfilm gehört. Das ist höchst unterhaltsam und intelligent erdacht und umgesetzt. Manchmal erinnert „Alles steht Kopf“ an „Alice im Wunderland“ oder an den „Zauberer von Oz“ – etwa, wenn die kindgerechte Phantasiefigur Bing Bong auftaucht. Über bedrohliche Abgründe fährt ein Gedankenzug, der unbedingt erreicht werden muß, um Zeit zu sparen. Man habe keine Blutgefäße und Nervenzellen zeigen wollen, erklärt Regisseur Pete Docter die Intentionen.

Das Produktionsteam konnte, angeleitet von Docter (hat schon an „Toy Story“ mitgewirkt) und Ko-Regisseur Ronnie del Carmen („Ratatouille“ und „Oben“), mit einer Fülle von zündenden Ideen den hohen Standard halten, den man von einem Pixar-Film erwarten darf. Die Werbebotschaft „Triff die Stimmen in deinem Kopf!“ wird auf überzeugende Weise eingelöst. Die Geschichte, die der Film erzählt, ist auch für Kinder überschaubar, die am Ende lernen, daß nicht nur Freude, sondern auch Kummer eine wichtige Bedeutung im Leben hat.