© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/15 / 02. Oktober 2015

Pankraz,
das Selfie und die digitale Identität

Ich denke, also bin ich.“ So formulierte einst René Des-cartes am Beginn der europäischen Moderne die Grundformel des Ich-Bewußtseins, der „individuellen Identität“, wie die Psychologen sagen. Das ist lange her, heute klingt es anders. „Ich fotografiere mich, also bin ich“, verkündet eine soeben im Düsseldorfer NRW-Forum eröffnete Ausstellung unter dem Titel „EGO UPDATE. Die Zukunft der digitalen Identität“. Im Katalog wird allen Ernstes behauptet, daß das digitale Weltgeschehen Descartes’ Formel mittlerweile total außer Kurs gesetzt habe und durch ein neues „Update“ ersetzt werden müsse.

Zu sehen sind sogenannte Selfies, also Fotografien, die Menschen mittels Handy und Smartphone von sich selbst gemacht haben. 25 Millionen Deutsche, so werden wir beim Durchgang durch die Schau belehrt, benutzten bereits regelmäßig das Selfie zur Sicherung der eigenen Identität. In der digital optimierten, aber doch von eigener Hand autonom per Klick veranlaßten Abbildung ihrer leiblichen Erscheinung fänden sie ihr wahres Ich, das ihnen niemand wegnehmen oder verunstalten könne.

Tatsächlich wirken die bei EGO UPDATE gezeigten Bilder sehr gelungen und auch irgendwie authentisch, zumindest hoch persönlich. Sie sind – dafür sorgt die digitale Ausstattung der Smartphones – technisch perfekt, es gibt keine schlechten Beleuchtungen oder Zielverfehlungen. Der Betrachter gewinnt sofort den Eindruck: Ja, so und nicht anders hat der Fotograf, der Autor, die Szene gewollt, es gab nicht die geringste Fremdeinwirkung von außen, weder von anderen Menschen noch von Sachen.


Die Bilder im NRW-Forum sind reine Ich-Werke, das wird niemand bestreiten wollen. Liefern sie aber auch wirklich, wie die Ausstellung so aufdringlich nahelegt, eine neue, verläßliche Identitätsformel des Ich, welche die berühmte Formel von Des-cartes ablösen kann und auch soll? Daran muß man zweifeln, und daran zweifeln die Ausstellungsmacher wohl auch selber. Über ihrem ganzen Arrangement liegt ein Ruch von Ratlosigkeit, ja von Verzweiflung. Man spricht zwar im Namen der Digitalität, fühlt sich von ihr jedoch offenbar bedroht und in die Enge getrieben.

Überall in der digitalen Technik nämlich ist man gerade dabei, die individuelle Identität regelrecht abzuschaffen, ihr jeden Entscheidungsspielraum zu nehmen und sie so zu einem bloßen Moment von Computer- und Algorithmen-Entscheidungen zu machen. Just kurz vor der Düsseldorfer Schau eröffnete in Frankfurt am Main die IAA, und in den Eröffnungsreden wimmelte es förmlich von Ankündigungen, was man demnächst alles  an neuer Digitalität in die Fahrzeuge einbauen werde. Jede dieser Ankündigungen klang wie eine Drohung.

Die Autos werden in Zukunft nicht nur voll den Fahrer ersetzen, sondern sie werden ihrem Besitzer, nachdem die Verkäuferfirma vorher seine Vorlieben und Eigenheiten digital registriert hat (und sie weiter registrieren läßt), alle möglichen Entscheidungen jenseits des Straßenverkehrs abnehmen: beispielsweise welche Musik er momentan anklicken soll, welchen Wein er im Kühlfach lagern soll und wann er auf die Toilette zu gehen hat (weshalb „man“ extra für ihn zum rechten Zeitpunkt an einer Raststätte anhalten werde).

Angeblich liegen alle in Gang gesetzten Algorithmen, wie in Frankfurt eifrig versichert wurde, „im Interesse des Kunden“, man wolle ihm lediglich „die Arbeit abnehmen“. Aber Kunden sind nicht automatisch dasselbe wie individuelle Identitäten, und Entscheidungen treffen ist nicht dasselbe wie arbeiten im landläufigen Sinne. Entscheidungen treffen heißt denken. Will man uns jetzt etwa das  Denken abnehmen, also genau das, was laut Descartes’ „cogito ergo sum“ unser Ich, das menschliche Ich, ausmacht und uns vom Tier unterscheidet?


Sicherlich, die Wissenschaft, die aktuelle Schwarmforschung hat so manche erstaunliche Parallele zwischen Mensch und Tier zutage gefördert, aber die Abschaffung des stolzen menschlichen Ichs zugunsten eines sardellenähnlichen Lebewesens  rückte dabei nicht ins Visier. Es geht allenfalls darum, das Denken nicht, wie Descartes es tat, auf reine Logik und Mathematik zu beschränken, es vielmehr in Richtung Sinnlichkeit und Gefühl auszudehnen und über begründbare Formen leibgeistiger Rationalität nachzudenken.

Ob dazu die derzeitige Selfie-Begeisterung, wie sie die Düsseldorfer Ausstellung abbildet,  einen Beitrag leistet, müßte sich erst erweisen. Pankraz glaubt, eher nicht. Sich selber mit Hilfe digitaler Mechanik einigermaßen authentisch abbilden zu können, reicht dazu nicht,  ebenso wenig wie einst Nietzsches Empfehlung, das Ich als ein bloßes „Maskenspiel“ zu sehen, als ein ewiges Sich-oientieren an Sinneswahrnehmungen, Beobachtungen und Erinnerungen, die das „Lebenstier“, das wir in Wahrheit seien, aus Überlebensgründen vorzeige oder hintanstelle, je nach Bedarf.

Pankraz hält dagegen: Das Ich ist eine geistige Entität, die weder wegzureden noch zu überspielen ist. Es muß ja in jedem Fall etwas geben, das sich entweder aus lebenspraktischen Gründen  maskiert – oder „nein“ sagt, eine ewig sehnsüchtige, auf Gutes begierige Identität, die, zumindest als „lebenspraktische Fiktion“, unendlich gebraucht wird. Kein einziges juristisches Urteil wäre möglich ohne Ich, denn allein das voll anerkannte und als Person respektierte Ich kann Verantwortung übernehmen; Verantwortung aber ist das Schlüsselwort für menschliche Existenz überhaupt, für Kultur und Gerechtigkeit.

In der Düsseldorfer Schau wird übrigens auch ein Schimpanse gezeigt, der Selfies von sich macht. Um eines dieser Affen-Selfies entwickelte sich schon 1973 in den USA ein Rechtsstreit, weil der Fotograf, der dem Affen im Zoo das Sichselbstfotografieren beigebracht hatte, ein Copyright für die Bilder forderte. Das Gericht lehnte den Antrag ab. Affen können vielleicht fotografieren, entschied es, aber sie können keine Rechtssubjekte werden. Es gibt noch Richter in Washington.