© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/15 / 25. September 2015

Gedankenstarker Mittelstürmer
Peer Steinbrück benennt Deutschlands Schwächen und findet nüchterne Lösungen
Cornelius Persdorf

Die desaströs verlorene Bundestagswahl. Der ehrliche Verlierer. Hämische und ignorante Journalisten. Gierige Technologie-Konzerne, hybride Cyborgs, vertane Chancen: Der ehemalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Ex-Bundesfinanzminister und Spitzenkandidat der SPD bei der Bundestagswahl 2013 weiß die Leser mit mächtigen Szenarien zu fesseln. Keine Frage, an Peer Steinbrück ist ein Journalist verlorengegangen, wie er selbst zu Beginn des Buches bedauert. Seine Stärke sind griffige Metaphern, besonders – in „Müntes“ guter Tradition – Anleihen aus der Fußballwelt. 

Steinbrücks Fähigkeit zur selbstkritischen Einsicht

Der TV-gestählte rechte Mittel-Stürmer der SPD bleibt sich und seiner Formschwankung treu: Mal verwandelt er treffsicher ins Triangel, mal bolzt er zwölf Meter über die Latte. Den schönsten Offensivfußball spielt er gegen sich selbst. Die prägnant in Stichpunkten aufgezählten Versäumnisse im Wahlkampf 2013 zeigen seine Fähigkeit zur selbstkritischen Einsicht, die immer mit der Vervollkommnung seines Stils zusammenfällt: kurz, schnoddrig, wahr. Der notorische Rückgriff auf seine Lieblings-Strombergiade („Hätte, hätte, Fahrradkette ...“) dient als krönender Abschluß.

Dann der Total-Ausfall: Durch den Online-Journalismus gäbe es keine „‘Torwächterrolle’ bei der Sichtung und Auswahl relevanter Nachrichten“ mehr. Die kurzlebigen Online-Medien selektieren seiner Meinung nach nicht mehr zwischen wichtigen und unwichtigen Nachrichten. Mangelnde Selektivität kann man dem 25.000 Euro schweren Redner dagegen nicht vorwerfen: Als Beispiel für bedrohliche Macht großer Medienkonzerne nennt er den konservativen Medienunternehmer Rupert Murdoch – nicht etwa die SPD-nahe Verlagsgesellschaft Madsack. Genauso einseitig wirkt seine Manndeckung für den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff gegen einen „gewalttätigen Journalismus“ – kein Wort zu Wulffs Foul an der Pressefreiheit auf Bild-Chef Kai Diekmanns Anrufbeantworter. Seinen redlichen Parteifreund Thilo Sarrazin sortiert er hingegen ins Abseits „populistischer Bücher“ neben Akif Pirincci ein, obwohl er an anderer Stelle das Tackling gegen unabhängige Wissenschaftler kritisiert. 

Zudem verliert sich Steinbrück häufig in risikoarmem, aber unergiebigem Mittelfeldgeschiebe, wenn er über die Schnellebigkeit unserer Zeit klagt: „Der gewachsene Arbeits- und Zeitdruck, der auf vielen Journalisten lastet, würgt notwendige Recherchen ab und drückt auf die Solidität der Berichterstattung.“

Bei aller teils berechtigten Klage über die Medien und ihre Tendenz zu Skandalisierung, Personalisierung und halbgare Psychologisierung beweist Steinbrück einmal echtes Fair play: „Der wirtschaftliche Erfolg, den nur noch wenige Medienhäuser erzielen, ist zugleich ein essentieller Beitrag zur Sicherung der demokratischen Öffentlichkeit.“ Eine schöne Geste gegenüber allen Presseerzeugnissen mit steigender Auflage.

Auf dem Gebiet der Finanzpolitik spielt Steinbrück wieder frisch auf. Zunächst vertritt er die Linie, die er immer verfolgt hat: Für Ausgabenkürzung sieht er nicht den gesellschaftlichen Willen, Steuererhöhungen seien unvermeidbar, die „kalte Progression“ sei ein „Phantom“, der Einnahmevorteil ihrer Beseitigung werde überschätzt. Dann tunnelt er sich selbst: Als Finanzminister hat er in der Bundestagsdebatte 2008 noch leidenschaftlich den ausgeglichenen Haushalt verfochten, jetzt aber kritisiert er die gleichfarbige Regierungskoalition dafür, „eine schwarze Null zur Prestigefrage zu erklären“, die nicht die notwendigen finanziellen Spielräume für Zukunftsinvestitionen ermögliche. Bei aller Verkniffenheit spürt man dennoch den Heimspiel-Faktor in diesem Kapitel: Nachvollziehbar und konsequent zeichnet Steinbrück einen möglichen Weg aus Deutschlands drohendem finanziellen Kollaps, übersieht kein Detail und bricht auch sogar sozialdemokratische Tabus. 

Dann lauter Fehlpässe: Steinbrücks geopolitische Gedanken wirken oberflächlich, geradezu lustlos. Bei einem so scharfen und gutbezahlten Geist hätte man sich einen Rekurs auf die Systematik Kissingers und Brzezinskis erhofft. Einige seiner Thesen zeigen im Gegenteil eine völlige Ahnungslosigkeit gegenüber den Grundsätzen der realistischen Schule. Auch hier verläßt Steinbrück sich selbst, argumentiert unstrukturiert und vage. Er rechtfertigt, statt zu analysieren, wenn er sich ohne Reflexion der Behauptung anschließt, „die erfolgreiche Mobilisierung der Massen habe in Moskau die Angst vor Ansteckungsgefahr durch die Freiheits- und Demokratiebewegung ausgelöst“. Klarer skizziert der Autor die andere Welt-Bedrohung. Diese gehe „von dem fundamentalistischen Islamismus aus, der im Dschihadismus seine krasseste und aggressivste Ausprägung findet“. Nachdem Steinbrück somit den weißen Schimmel mit Schnee bestreut und in Milch getaucht hat, bezeichnet er ihn im nächsten Satz unverblümt als „Teil des Islam“ und redet einen Absatz später ursachenbewußt vom „radikalen Islam“. 

Steinbrück zeigt in „Vertagte Zukunft“ insbesondere beim Thema Finanzen, aber auch bei seiner Wahlanalyse eine hohe intellektuelle Stringenz. Die Lektüre des Frühjahrstitels gab dem Leser noch Hoffnung, daß nach 2017 Steinbrück als marktwirtschaftliches Gewissen wenigstens auf der Reservebank der SPD Platz nimmt. Mitte September 2015 hat dieser jedoch seinen endgültigen Abschied aus dem Profigeschäft verkündet.

Peer Steinbrück: Vertagte Zukunft. Die selbstzufriedene Republik. Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 2015, gebunden, 303 Seiten, 22 Euro