© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/15 / 25. September 2015

Er läßt sich nicht mit Politphrasen abspeisen
Youtube: Der 29jährige Nachwuchsmoderator Thilo Jung stiehlt den Hauptstadt-Korrespondenten die Show
Ronald Berthold

Durch seinen rosafarbenen Kapuzenpulli bekam der Journalist kürzlich unverhofft breite PR. Martin Schäfer, Sprecher des Auswärtiges Amtes, und Regierungssprecher Steffen Seibert witzelten vor der Bundespressekonferenz (BPK) über das Kleidungsstück. 

Dumm nur, daß das Mikro bereits offen war. Zu verstehen sind Schäfers Worte: „unterstellen, daß er schwul ist“. Das brachte dem Sprachrohr von Frank-Walter Steinmeier prompt den „Homophobie-Vorwurf“ (Tagesspiegel) ein.

Der Mann mit dem rosa Pulli heißt Tilo Jung und ist alles andere als naiv. Und doch nennt er seine Sendereihe „Jung & naiv“. Denn der 29jährige ist einer der wenigen Hauptstadt-Journalisten, die sich nicht mit unverständlichem Bürokratiesprech und nichtssagenden Politikerparolen zufriedengeben. Auf den Bundespressekonferenzen bohrt er nach. Jung möchte keine O-Töne, sondern tatsächlich Antworten und bringt damit die Protagonisten auf der Holzfurnier-Bühne am Berliner Schiffbauerdamm in Schwulitäten. Besonders die Sprecher der Ministerien fangen nicht selten an zu stottern, wenn Tilo Jung nachhakt. Und irgendwie ist jeder glücklich, wenn der Kelch einer Jung-Frage an ihm vorbeigeht.

Niemand stellt seine        Fragen so wie er

Als Jung im Zusammenhang mit den Angriffen auf kurdische Stellungen am 30. Juli nachfragte, ob die türkischen Bombardements syrischen Territoriums mit dem Völkerrecht vereinbar seien, sagte die Vize-Regierungssprecherin Christiane Wirtz stockend: „Nee, nee Völkerrecht“, meinte damit, sie sei nicht zuständig und wies mit der rechten Hand auf die neben ihr sitzende stellvertretende Sprecherin des Auswärtigen Amtes (AA), Sawsan Chebli. Wirtz war sichtbar heilfroh, nicht antworten zu müssen.

Was dann geschah, war ein peinlicher Moment zum Fremdschämen. Selten hat der Zuschauer einen Vertreter der Bundesregierung dermaßen außer Tritt erlebt. Chebli stottert, mehrfach fallen die Worte „Notwehr“ und „Selbstverteidigung“, kaum ein Satz endet ordnungsgemäß und findet dessen Anfang wieder, die „Ähs“ und „Ähms“ sind nicht mehr zu zählen. Irgendwie will die 36jährige sagen, daß es keinen Grund zur Kritik an der Türkei gebe, um dann plötzlich zu ergänzen: „Völkerrechtlich ist das alles ein bißchen schwierig und nicht einfach zu formulieren.“ 

Wie wahr, kann der Zuschauer da nur seufzen. Die Antwort ist ein Dokument offizieller Hilflosigkeit, das zu den Highlights auf dem Youtube-Kanal von „Jung & naiv“ gehört. Andererseits widerspricht es Tilo Jungs Anspruch, einfache und verständliche Stellungnahmen zu senden. 

Für seine Interviews schlüpft der Reporter nämlich gern in die Rolle eines 14jährigen Jugendlichen, der unbedarft auf seine Gesprächspartner zugeht und nachfragt, wenn er etwas nicht versteht. Dabei ist augenscheinlich, wie schwer sich Politprofis tun, sich verständlich auszudrücken, ohne dabei zu verschleiern. Jung beherrscht die Kunst, Leute, die viel reden, aber nichts sagen, zu demaskieren. Denn er läßt sie einfach labern und schneidet das Interview auch nicht. Anfänglich hatte er kein Equipment dafür, heute meint er, er wolle nicht zensieren. Effekt: Der Zuschauer erlebt seine Politiker so wie sie wirklich sind und wie sie kaum einer kennt.

Allerdings muß Jung aufpassen, durch seine ungeschnittenen Interviews nicht zu langweilig zu werden. Zumal er sein Programm ja dem eigenen Anspruch nach „für Desinteressierte“ macht. Ob wirklich viele von ihnen durch die teilweise langatmigen Gespräche wieder zu Politik-Fans werden?

Der Zuschauer erlebt seine Politiker so, wie sie sind

Eine Jury sah das so. Für sein Verdienst, vermeintlich Politikverdrossene wieder für das Weltgeschehen zu interessieren, erhielt Tilo Jung, der seit 19. August 2013 „Jung & naiv“ ausstrahlt, aber erst seit Frühjahr 2014 offizielles BPK-Mitglied ist, den zweiten Platz beim Axel-Springer-Preis für Journalisten in der Kategorie Internet. Nach eigener Aussage hat sein Interview mit Peer Steinbrück im Wahlkampf 2013 seine Oma dazu bewegt, nach vielen Jahren wieder wählen zu gehen. Na dann.

Seit Anfang dieses Jahres nun widmet sich Jung vorwiegend den Auftritten von Politikern und Ministeriumssprechern vor der Bundespressekonferenz. Er will laut eigener Aussage darüber „informieren, wie die Bundesregierung informiert“. Das gelingt manchmal – siehe AA-Sprecherin Sawsan Chebli – wirklich famos.

Seit Mitte 2013 sendet Tilo Jung sogar auf dem Fernsehkanal Joiz Germany, wenn auch nur für 20 Minuten. Gespräche mit Vertretern öffentlich-rechtlicher Fernsehanstalten scheiterten, weil Jung sich keiner dort geforderten redaktionellen Kontrolle unterwerfen wollte.

Hauptmedium bleibt aber das Internet. Mehr als 40.000 Menschen haben seinen Youtube-Kanal inzwischen abonniert. Fast 60.000 sahen sich sogar sein Video an, als er Anfang Juli Martin Jäger, Sprecher von Finanzminister Wolfgang Schäuble, im Zusammenhang mit der Eurokrise fragte, wie dieser europäische Solidarität erklären würde. Jäger wählt dafür einen Vergleich mit Tilo Jung und spricht von „Leistung und Gegenleistung“. Der Journalist solle sich vorstellen, er habe Schulden, könne diese aber nicht bedienen: „Ich gebe Ihnen Geld“, erläutert Jäger, „und Sie stellen pro Pressekonferenz nur noch eine Frage.“ Ja, das hätte das Establishment wohl gern.

Foto: Tilo Jung (September 2014): Er informiert, wie die Bundesregierung informiert, und entlarvt dabei Kollegen