© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/15 / 25. September 2015

Pankraz,
D. Zetsche und das Wirtschaftswunder

Hat hier einer bewußt Öl ins Feuer gegossen? Oder nur unkontrolliert aus dem Bauch heraus geplaudert? Was Daimler-Chef Dieter Zetsche (62) im Vorfeld der Internationalen Automobil-ausstellung (IAA) in Frankfurt am Main verlautbarte, war jedenfalls mehr als provozierend, es war schlicht anstößig und löste bei zahlreichen Zuhörern Erstaunen und Irritation aus.

Der gewaltige, sich immer weiter steigernde Flüchtlingsstrom nach Deutschland, sagte Zetsche, sei eine große Chance für unser Land. „Im besten Fall kann er die Grundlage für das nächste deutsche Wirtschaftswunder werden. Natürlich ist nicht jeder Flüchtling ein brillanter Ingenieur, Mechaniker oder Unternehmer, aber wer sein komplettes Leben zurückläßt, ist hoch motiviert. Genau solche Menschen suchen wir bei Mercedes (…) Deshalb müssen Flüchtlinge in Deutschland willkommen geheißen werden. Wer an die Zukunft denkt, wird sie nicht abweisen.“

Keine Spur von Sentimentalität also in dieser Suada, nichts als Kosten-Nutzen-Rechnung. Mercedes braucht Leute, die ihr ganzes bisheriges Leben komplett abgestreift haben und deshalb „hoch motiviert“ sind, will sagen: jederzeit für alles und jedes einsetzbar, wenn es nur etwas Geld bringt. Es sind gar keine richtigen Menschen mehr, mit vielfältigen Charakteren und Erinnerungen, nur noch Doppelfunktionsträger, einerseits Arbeitskräfte, denen man Geld geben muß, andererseits Kunden, denen man das Geld wieder abnehmen wird. Dagegen kommt kein autochthoner deutscher Facharbeiter an.


Wie prophezeite einst der legendäre US-amerikanische Großpolitiker und Weltbankchef Robert McNamara (1916–2009) in einem Interview mit der Zeitschrift Focus? „Die wirklichen Verlierer der sogenannten Globalisierung mit ihren frei flottierenden Finanz-, Güter- und Menschenströmen werden die gutausgebildeten Facharbeiter des Westens sein.  Denn die werden dann nicht mehr vom Kapital gebraucht, da die von ihnen besorgten Arbeitsgänge dank Mechanisierung und Elektronisierung genauso gut von ungelernten Kräften der Dritten Welt erledigt werden können, und zwar sehr viel billiger.“ 

Jenes Reden über die Ausbeutung der Dritten Welt im Zeichen der Globalisierung sei Augenwischerei, führte McNamara damals aus. Kapital und Dritte Welt stünden in einer Reihe gegen die „überbezahlten“ Kräfte des Westens. Überschuldung der armen Länder? Reines Geschwätz! Bereits heute seien diese Länder weitgehend aus dem üblichen Schuldendienst entlassen, ohne daß sich das positiv auf die Lebensverhältnisse bei ihnen auswirke. Die eingesparten Gelder würden nicht in Bildung und Gesundheitswesen investiert, sondern versickerten üblicherweise in ungeklärten Kanälen. 

McNamara gab das Focus- Interview, als er bereits im Ruhestand war, weder Minister noch Weltbankchef, sondern Pensionär und Wutrentner, der sich endlich einmal seinen Frust gründlich von der Seele reden wollte; das mediale Echo auf seinen Text klang hierzulande eher belustigt. Trotzdem hatte er nur allzu recht und bewährte sich als hellsichtiger Prognostiker, auch als er feststellte, daß der von der Globalisierung angerichtete Schaden für die Dritte Welt „einzig im Preisverfall der dort traditionell hergestellten Güter, besonders in der Landwirtschaft, besteht“.

So wie die überbezahlten Kräfte im Westen sind nun auch die traditionellen Güter der Dritten Welt nicht mehr konkurrenzfähig, werden von den maschinell und digital hergestellten Massengütern an die Wand gedrückt, was zu dramatischen Verhebungen in der sozialen Struktur führt: rasante Landflucht, Anschwellen der Städte zu ungeheuerlichen Bevölkerungs-Agglomerationen, Häßlichkeit, Eintönigkeit, Gleichmacherei. „Globalisierung“ bewirkt, außer (zumindest zeitweiliger) materieller, vor allem kulturelle Verelendung.


Deutsche Reisende merken das schnell, sobald sie in eines jener Länder kommen, aus denen die Flüchtlinge zu uns kommen. Was sie sehen, sobald sie sich ein bißchen über die üblichen Touristenpfade hinauswagen, sind grelle Szenen der Übervölkerung und des aus allen Nähten platzenden, ungezügelten Lebens. Das frißt und heckt und trickst und sucht seinen Augenblicksvorteil wie in einem wildwuchernden Pflanzengeschlinge in irgendeinem Versuchslaboratorium. Alles wirkt künstlich, aber keineswegs absterbend, vielmehr unnatürlich aufgedunsen und überdüngt.

Hunger, erbarmungswürdige lebende Skelette, aufgeblähte Kinderbäuche gibt es allenfalls in Bürgerkriegsgebieten, die nicht vom Kapital und nicht einmal vom Westen insgesamt gemacht, sondern eindeutig auf autochthonem Mist gewachsen sind. Die mißliche Situation in Syrien verdankt sich ja keineswegs nur und nicht einmal in erster Linie amerikanischer oder russischer Globalpolitik. Und was die von Aids oder anderen Seuchen geschlagenen Regionen betrifft, so tritt der Westen dort nicht als deren Verursacher in Erscheinung, sondern als Helfer, der kostenlos Medikamente und medizinische Behandlungsstrategien liefert.

Oder ist doch alles ganz anders und wir richten dort, wie die IAA-Rede von Dieter Zetsche nahelege, ganz absichtlich Elend an, damit die Menschen komplett von ihrem bisherigen Leben Abschied nehmen, um nach Norden aufzubrechen und sich „hoch motiviert“ den Zetsche & Co. als überall schnell einsetzbare Arbeitskräfte und potentielle Kunden zur Verfügung zu stellen, uns so einem neuen Wirtschaftswunder entgegenführend? 

Indes, von einem Wirtschaftswunder kann überhaupt nicht die Rede sein. Eher drohen absurd schwere Zeiten, über deren Risiken man gern verläßliche Auskünfte hätte. Politiker und Manager im Ruhestand können da, wie das Beispiel Robert McNamaras zeigt, mit Interviews oder Memoirenbänden durchaus hilfreich sein. Vielleicht würde auch Dieter Zetsche als Pensionär und Wutrentner erhellende Beiträge zur öffentlichen Diskussion liefern! Sein offizielles Pensionsalter ist jedoch erst in vier Jahren.