© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/15 / 25. September 2015

Permanenter Ausnahmezustand
Asylkrise I: Angesichts der nicht abreißenden Flüchtlingswelle wächst innerhalb der Großen Koalition die Nervosität
Christian Schreiber

Die immer neuen Wellen von Asylbewerbern haben das Land in einen permanenten Ausnahmezustand versetzt. Nur sehr langsam setzt sich auch in Berlin die Erkenntnis durch, daß etwas Grundlegendes passiert.  „Ganz viele tun so, als ob die Welt so wäre wie zuvor“, wunderte sich am Montag Staatssekretär Hans-Georg Engelke aus dem Bundesinnenministerium auf einer Veranstaltung des Arbeiter-Samariter-Bundes bei der es – natürlich – ebenfalls um die Lage an der Flüchtlingsfront ging. 

Wie sehr die ständig neuen Schlagzeilen von den Grenzen und aus den Nachbarländern an den Nerven der politischen Verantwortlichen rütteln, hatte sich bereits in der vergangenen Woche gezeigt. In einer bisher nicht gekannten Deutlichkeit waren Unionspolitiker auf Distanz zu Bundeskanzlerin Angela Merkel gegangen: „Ich hätte die Entscheidung so nicht getroffen“, sagte der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer der Frankfurter Neuen Presse und kritisierte damit die Entscheidung, Flüchtlinge über Ungarn weitestgehend unkontrolliert einreisen zu lassen. Noch schärfer ging die sächsische Bundestagsabgeordnete  Veronika Bellmann (CDU) mit der Politik der Kanzlerin ins Gericht. „Euphorisierte Grenzöffnungsversprechen, weil jedem das Herz blutet, der völlig erschöpfte Flüchtlingsfamilien sieht, sind zwar menschlich verständlich, aber ohne ein Konzept dahinter ein ordnungspolitischer Offenbarungseid“, sagte sie dem Handelsblatt. 

Die Kanzlerin sende damit das Signal aus, daß in der EU Regeln und Verträge auch im Asylrecht nicht eingehalten werden müßten. Prompt ignorierten Flüchtlinge zu Hunderten sogar die deutschen Grenzkontrollen und kämen illegal über die grüne Grenze. „Das ist das erste, was die Flüchtlinge von Eu-ropa lernen: Der persönliche Wille kann an allen im demokratischen Rechtsstaat vom Parlament beschlossenen Gesetzen vorbei durchgesetzt werden“, heißt es in dem Beitrag weiter. 

Der Vizekanzler und SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hält mittlerweile eine Zahl von einer Million Flüchtlingen im laufenden Jahr für möglich.  Mitten ins Asyl-Chaos platzte dann auch noch eine personelle Bombe. Der Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Manfred Schmidt, bat „aus persönlichen Gründen“, wie das Innenministerium mitteilte, darum, von seinen Aufgaben entbunden zu werden. Er galt als Vertrauensmann von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) und genoß in Regierungskreisen einen exzellenten Ruf. Intern soll er aber immer wieder auf personelle Aufstockung seines Amts gedrungen und für ein Einwanderungsgesetz geworben haben.  Nicht nur der Innenminister setzt nun alle Hoffnung auf Schmidts Nachfolger Frank-Jürgen Weise, der die Behörde parallel zu seiner eigentlichen Aufgabe als Chef der Arbeitsagentur führen soll.

SPD setzt eine Entschärfung durch

Der Innenminister wirbt unterdessen unermüdlich für eine Gesetzesänderung. Ein Arbeitspapier des Innenministeriums „zur Eindämmung der Asylmigration“ machte dazu in der vergangenen Woche elf Vorschläge. Diese zielten vor allem auf Asylbewerber aus den Balkanländern, deren Anträge in der Regel nicht bewilligt werden. So wurde unter anderem gefordert, auch Montenegro, Albanien und den Kosovo als sichere Herkunftsstaaten einzustufen. Bei Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien habe dies „dämpfend auf die Asylzuwanderung“ gewirkt. Das Papier enthielt zudem einen Vorschlag de Maizières für Änderungen beim Taschengeld für Flüchtlinge. Der Bargeldbedarf solle soweit möglich durch gleichwertige Sachleistungen ersetzt werden können: „Bargeldleistungen wie das Taschengeld sind ein wesentlicher Pull-Faktor für Menschen vom Balkan.“ Zudem sollten Geldleistungen immer nur monatlich und nicht schon im voraus ausgezahlt werden.

Innerhalb der Bundesregierung waren diese Vorschläge von Beginn an umstritten. „Selbstverständlich wird es noch Gespräche darüber geben müssen, sagte Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Vor allem die Einschränkung der Bargeldleistungen stößt bei der Ministerin offenkundig auf Unwillen. 

Anfang der Woche wurde das geplante Gesetz dann entschärft. Zunächst war vorgesehen, daß über ein EU-Mitgliedsland eingereiste Flüchtlinge und Asylbewerber weder Geld- noch Sachleistungen bekommen. Sie sollen lediglich Proviant und eine Fahrkarte zur Rückkehr in das EU-Land erhalten, über das sie erstmals in die EU eingereist sind. Nun soll diese Regelung für „vollziehbar Ausreisepflichtige“ gelten, nicht aber für Dublin-Fälle.

Zuvor hatte SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann den Innenminister kritisiert. „Er hat im Augenblick den schwersten Job in der Bundesregierung. Aber wir erwarten jetzt auch ein tatkräftiges Krisenmanagement“, sagte er den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Indirekt wies er de Maizière auch einen Teil der Verantwortung für den Rücktritt von BAMF-Chef Schmidt zu. „Er  hat sehr früh auf die steigenden Zahlen aufmerksam gemacht und Anträge auf Personalverstärkung gestellt, die nicht bewilligt worden sind.“ 

Foto: Angela Merkel mit einem Asylbewerber in der vergangenen Woche in Berlin: Deutliche Kritik aus den eigenen Reihen