© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/15 / 18. September 2015

Wir brauchen ein Leitbild der Freiheit
Der Philosoph Harald Seubert skizziert eine politische Philosophie für die Welt des 21. Jahrhunderts
Klaus Hornung

Als 1989/90 der Ost-West-Konflikt zum Ende kam, ging ein Aufatmen durch Europa, die Hoffnung reifte auf eine künftige Welt ohne Kriege, Krisen und Konflikte. Doch schon bald kehrte der Krieg im zerfallenden Jugoslawien nach Europa zurück. Am 11. September 2001 eröffneten islamistische Terrorgruppen in New York und Washington das neue Jahrhundert als eine Epoche globaler Konflikte. Die USA antworteten mit Militärinterventionen in Afghanistan (2001) und im Irak (2003). Nach ihrem Scheitern wurden der Nahe Osten und Nordafrika zu Schwerpunkten der islamistischen Gegenoffensive und stehen seitdem in Flammen.

Eine von den USA ausgehende Weltwirtschaftskrise wurde zum Symptom westlicher Schwäche. Ein neuer überflüssiger Ost-West-Konflikt um die Ukraine verschärfte das internationale Konfliktszenario. Die politische Publizistik analysierte, daß wir in eine „Welt aus den Fugen“ (Peter Scholl-Latour), „Welt ohne Weltordnung“ (Michael Stürmer) oder in eine „Neue Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas) eingetreten sind.

Harald Seubert, Professor der Philosophie in Basel, nimmt die berühmte Formel Alexis de Tocquevilles von 1835 auf, der für die damalige Welt der demokratischen Revolution eine neue politische Wissenschaft gefordert und begonnen hatte. Gleiches sei nun für das begonnene 21. Jahrhundert mit seinen völlig neuen Konstellationen dringlich. Es wird geprägt vom Aufstieg außereuropäischer Mächte, Konflikten der Kulturen und Religionen, einer ungebremsten Bevölkerungsexplosion außerhalb Europas und Massenwanderungen zumal in den alten Kontinent.

In dieser Welt findet sich eine Vielzahl von Diktaturen und failed states als Ursachen und Folgen internationaler Instabilität. Zugleich haben sich immer mehr globale Handelslinien und Warenströme ausgebreitet mit Konflikten zwischen machtbewußten Finanzoligarchien und Milliarden Armen. Ein immer dichteres Netz von Informationen und Medien umschlingt die Erde – für die einen Fortschrittszeichen, für andere Zentren der Beherrschung und Manipulation der Massen.


Wichtiger als Demokratie ist die Gewaltenteilung


Seuberts Studie beginnt mit dem Ariadnefaden, der ihn auf der Suche nach den Quellen und Erträgen der politischen Philosophie und Analyse leitet, zumal zu Platon und Aristoteles, die die fundamentalen Kategorien der Politik – Staat, Herrschaft, Macht, Recht und Moral – entwickelten. Dann wendet er sich den großen Diagnostikern der Neuzeit zu: Machiavelli, Hobbes, Kant, Clausewitz, Fichte und Hegel, im 20. Jahrhundert schließlich Max Weber, Carl Schmitt, Hannah Arendt und Leo Strauss. Nach dem „Höllensturz“ der totalitären Diktaturen ist vom europäischen Erbe manches hinfällig geworden, auch Bestände der politischen Ideengeschichte aus Liberalismus, Konservatismus oder sozialdemokratischem Sozialstaat. Unzweifelhaft bedarf die planetarische Gegenwartswelt der Überwindung eurozentrischer Verengung und der Aufnahme aus Beständen etwa der klassischen chinesischen Philosophie (Konfuzius oder Tao) und der indisch-buddhistischen Weisheitslehren.

Seubert ist der Auffassung, daß auch und gerade die inmitten einer Fülle von Konflikten sich herausbildende globale Welt auf ein politisches, gesellschaftliches und geistiges Leitbild nicht verzichten kann und darf. Er nennt es freiheitliche Republik als Gegenbild zu allen Versuchungen ideologisch, religiös und ökonomisch gesteuerter Unfreiheit. Für dieses Leitbild der Freiheit des einzelnen, des Denkens, der Gesellschaft und des Staates hält er mit Tocqueville die Institutionen der Gewaltenteilung für grundlegend und wichtiger als die Demokratie mit ihren steten Gefahren des Umschlags in die Tyrannei der Mehrheit.

Ein wichtiges Votum des Verfassers betrifft die politischen „Realfaktoren“, zumal in der internationalen Politik. Es sind die geopolitischen Interessen der Mächte und ihre nicht selten fragwürdigen Legitimationen durch die Führungsgruppen, die einer steten besonders sorgfältigen philosophischen und wissenschaftlichen Überprüfung bedürfen und wichtiger sind als manche ideologischen Konstrukte des wissenschaftlichen Diskurses.

Seubert benennt deutlich die Gefahren für eine republikanisch-freiheitliche Ordnung der Welt: etwa die Geld-, Waren- und Informationssysteme, die gern als angeblich autonom und „alternativlos“ gerechtfertigt werden. Skeptisch ist der Verfasser gegenüber einem verbreiteten unkritischen Verständnis von „Demokratie“ als der besten aller möglichen politischen Welten und der heute im Westen vorherrschenden säkularreligiösen Ideologie der „Menschenrechte“ ohne das Gegengewicht der „Menschenpflichten“.

Hinzu kommt in der westlichen Lebenspraxis der hohe Rang des materiellen Konsums, der für eine vernünftige und tragfähige politische und gesellschaftliche freiheitliche Ordnung nicht ausschlaggebend sein kann. Hier besteht der wichtigste Korrekturbedarf der westlichen Politik- und Gesellschaftstheorie und -praxis im Blick auf die sich abzeichnenden Erfordernisse der globalen Welt. Hierzu rechnet Seubert nicht zuletzt auch die aktuelle Vergötzung der IT-Welt mit ihrer Gewöhnung an die „kleinen Formate“ und „kurzen Strecken“, die die Menschen zur Preisgabe ihrer politischen und gesellschaftlichen Rechte und Pflichten verleiten und sie der Einsicht in die langfristigen historischen und politischen Kräfte und Prozesse und damit ihrer Mündigkeit und Vernunft berauben, zugunsten anonymer Interessen und Mächte.

Um so wichtiger ist die Bildung und Entwicklung des geistigen Profils des einzelnen und seiner Sensibilität der Sprache, um der Unterminierung der personalen Freiheit begegnen zu können. Auch für Seubert geht es um den zentralen Auftrag, die vielfältigen Tendenzen zur Postdemokratie abzuwehren, die mit religiös legitimiertem Terror ebenso auftreten wie in vielfältigen ideologischen Verkleidungen von Machtpolitik und ökonomischer wie medialer Überwältigung.

Zur Verteidigung der Freiheit im 21. Jahrhundert gehört für Seubert nicht zuletzt die kritische Überprüfung der Fehlwege der Säkularisierung des Westens, die sich als Emanzipation des Menschen anbieten, jedoch in die westliche „Diktatur des Relativismus“ (Benedikt XVI.) abgeglitten sind und damit viel zur Schwächung dieser Weltregion beitragen. Der Verfasser sieht die Notwendigkeit, den europäischen homo humanus als homo mundanus fortzuführen, das heißt, das europäische Erbe der denkenden Verantwortung der Vernunft im Dienst der konkreten Freiheit zu begreifen und zu praktizieren, wie uns schon Aristoteles gelehrt hatte.