© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/15 / 18. September 2015

Frisch, fromm und frei
Der Fund des Tagebuches eines sächsischen Buchdruckers gewährt unerwartete Einblicke ins 19. Jahrhundert
Thomas Kuzias

Das „dunkelste aller Jahrhunderte“ sei das 19. Jahrhundert, wie es Martin Heidegger einmal ausdrückte, und so war seine stürmisch drängende Reflexion ganz und gar auf dessen Überwindung ausgerichtet. Dieses Jahrhundert indes ist uns durch eine Geschichtsschreibung von oben wohl vertraut, wie das diesjährige Bismarck-Jubiläum vor Augen führt. Das Gegenstück einer Geschichtsschreibung von unten jedoch, die sogenannte Sozialgeschichtsschreibung, erscheint durch ihre Einseitigkeiten im Dienste linker Ideologien nachhaltig in Verruf geraten. Die Publikation eines umfassenden Tagebuches des aus der sächsischen Provinz stammenden Buchdruckers Friedrich Anton Püschmann (1829–1913) durch den Leipziger Historiker Matthias John ist insofern als wissenschaftliches Ereignis zu begreifen. Das mithin wachsende Interesse am 19. Jahrhundert erhält hier neue Nahrung aus unverfälschtem Quell.
Das flüssig geschriebene Tagebuch beginnt, indem es die letzten Monate von Püschmanns fünfjähriger Lehrzeit im sächsischen Grimma festhält, in die er im Alter von vierzehn Jahren eintrat. Es enthält die Aufzeichnungen seiner Wanderungen durch Sachsen sowie seine Reisebeobachtungen aus Mittel- und Westdeutschland, und der zweite Teil endet mit den Notizen über seine ersten Anstellungen in Rostock und Hamburg.

Kulturlandschaft aus der Sicht des Wandergesellen

Der dritte Teil hat die Wanderungen und Arbeitsverhältnisse im süddeutschen Raum und der Schweiz zum Gegenstand; über Wien und durch Böhmen ging es später dann zurück in die sächsische Heimat. Da Püschmann als Buchdrucker keine dauernde, die Gründung von Hausstand und Familie ermöglichende Anstellung fand, trat er nunmehr in das Grimmaer Lehrerseminar ein und wurde Volksschullehrer. Mit den Berichten über diese selbstgewählte „Umschulungsmaßnahme“, die nebenbei auch die zentrale Rolle des Christentums in der deutschen Volkslehrerbildung erkennen lassen, endeten seine Aufzeichnungen.
Die Beschreibungen der angesteuerten Orte sind nicht nur für Lokalhistoriker aufschlußreich, sondern vermitteln dem heutigen Leser ein anschauliches Bild der deutschen Kulturlandschaft aus der Perspektive eines selbstbewußten Wandergesellen. Über zahlreiche Anmerkungen des Herausgebers und die Beifügung zeitgenössischer Abbildungen ist der Leser erfreut.
Püschmanns Erlebnisse der Revolutionsereignisse von 1848/49 belegen, wie begeistert diese Vorgänge und die mit ihnen verbundenen Forderungen („Preßfreiheit“) im Volk begrüßt wurden. Seine Informationen entstammten indes vorwiegend der zeitgenössischen Presse. Der sich als „gemäßigt Liberaler“ verstehende Püschmann sprach sich dann 1852 entschieden gegen das „unsinnige Ueberstürzungsfieber, dem viele der heutigen Radicalen huldigen“ aus. Seinen dreijährigen Aufenthalt in der republikanischen Schweiz faßte er nüchtern zusammen: „Mich macht die Schweiz nicht zum Revolutionär. (…) Der Zwiespalt ist in der kleinen Schweiz größer als die Zerrissenheit im großen Deutschland.“
Die Tagebuchaufzeichnungen Püsch-manns geben ihrem Leser vielerlei konkrete Informationen an die Hand. Phänomene des Druckereiwesens, der Ablauf von Arbeitsprozessen oder der Organisationsgrad des Berufsstandes werden ebenso deutlich, wie sich allenthalben die Entstehung von „Industrieplätzen“ beobachten läßt. In Westsachsen (!) gab es noch ein lebendiges slawisches Bewußtsein, welches sich im „Wendisch-Clubb“ organisierte. Am eindringlichsten jedoch sind die Einsichten ins Alltagsleben, der Rhythmus von – aus unserer Sicht – merkwürdig anmutenden Anstrengungen und kleinen Sorgen oder die Einblicke in einfachste Verrichtungen beispielsweise der Hygiene oder der täglichen Ökonomie (Preise und Preisvergleiche).

Kulturlandschaft aus der Sicht des Wandergesellen

Trotz bisweilen nicht von der Hand zu weisender Eindrücke von Enge und Provinzialität wird eine auffallende Heiterkeit und Fröhlichkeit des Lebens der ganz normalen Leute regelrecht greifbar. Elemente der Frömmigkeits- und Bildungsgeschichte – der Fackelzug ist ein etabliertes Institut zur Ehrung anerkannter Autoritäten – werden ebenso sichtbar wie das Einsickern der klassischen deutschen Dichtung ins beziehungsweise deren Aneignung durch das Volk, eine anrührende Geselligkeit der einfachen Schichten, die Vielfalt an Freizeitvergnügungen (unter anderem Tanzwut), eine starke Liebe zur Natur und die Herausbildung eines patriotischen Nationalbewußtseins.
Sehr modern mutet eine Art Fazit an, welches der wackere Püschmann aus seiner lebensfrohen Wanderzeit zieht: „In der That, man muß einige Jahre außerhalb Deutschlands zugebracht haben, um schätzen zu lernen, was es dort Schönes und Gutes giebt, und Liebe zum Vaterlande und Sehnsucht nach demselben zu fühlen.“