© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/15 / 18. September 2015

Was sind deutsche Interessen?
Eine grundsätzliche Analyse aus Anlaß der Hallstein-Doktrin, die vor sechzig Jahren verkündet worden ist
Konrad Adam

Es war eine Selbstverständlichkeit, die der jüngst verstorbene Egon Bahr eher beiläufig erwähnte, als er im Rückblick auf die von ihm konzipierte Ostpolitik darauf bestand, daß sie im besten Interesse Deutschlands gelegen habe. Eine Selbstverständlichkeit allerdings, die sich nirgendwo auf der Welt weniger von selbst versteht als in Deutschland.
Die Deutschen lieben es nicht, von Interessen zu sprechen, schon gar nicht von ihren eigenen, und halten Leute, die das trotzdem tun, für verdächtig. Wenn überhaupt, nehmen sie höhere Interessen wahr, treten für Fortschritt und freie Märkte ein, handeln im Namen von Wertegemeinschaften oder ganzen Völkerfamilien, am liebsten im Interesse der gesamten Menschheit. Deswegen führen sie keine Kriege mehr, sondern beteiligen sich an humanitären Aktionen, bei denen die Waffen durch Care-Pakete ersetzt werden.
Die Hallstein-Doktrin war kaum wirksame Drohkulisse
Dennoch hat Bahr natürlich recht. Jedes Land hat seine Interessen, die zu verfolgen und durchzusetzen Aufgabe der Regierung ist. Das alles überragende Interesse Deutschlands hatte das Grundgesetz klar genug definiert, als es die Vollendung der Einheit in Freiheit zur Staatsräson der jungen Bundesrepublik erklärte. Die Hallstein-Doktrin, die alle Welt davon in Kenntnis setzte, daß Bonn auf seinem Alleinvertretungsanspruch bestehe und die Anerkennung des Gegenregimes im bewußt abfällig so genannten Pankow als unfreundlichen Akt betrachte, hat das auf ihre Art versucht.
Mit allerdings nur mäßigem, im Lauf der Jahre immer geringerem Erfolg. Sie war nie mehr als eine Drohkulisse, die allerdings nur dann Eindruck macht, wenn hinter ihr eine zu allem entschlossene Großmacht sichtbar wird. Doch daran fehlte es in Bonn. Tatsächlich ist die Doktrin nur zweimal angewandt worden, gegen Titos Jugoslawien und gegen Castros Kuba; in allen anderen Fällen wußte man sich anders zu behelfen.  
Erfolgreich wird man das nicht nennen wollen. Die Hallstein-Doktrin hat den Aufstieg der DDR zu internationaler Anerkennung zwar verzögert; verhindern konnte sie ihn aber nicht. Deshalb war es nur folgerichtig, daß sie von der sozial-liberalen Koalitionsregierung, die 1969 ins Amt gekommen war, aufgegeben, soll heißen: ersetzt wurde durch Egon Bahrs Parole, die Wandel durch Annäherung versprach. Die Ostverträge, zumal der Grundlagenvertrag, mit dem sich beide deutsche Staaten nahezu vorbehaltlos wechselseitig anerkannten, waren die Früchte dieses neuen, realistischen Konzepts.
An die Stelle einer mehr oder weniger doktrinär verfolgten Aus- und Abgrenzungspolitik trat der Systemwettbewerb, der schließlich, begünstigt durch mancherlei äußere Umstände, im Herbst des Jahres 1989 zum Zusammenbruch des Ostblocks, zur Wende in der DDR und zur Wiedervereinigung des geteilten Landes führte. Der vom Grundgesetz erteilte Auftrag war damit erfüllt, die Frage nach den Interessen Deutschlands fürs erste beantwortet – natürlich nur, um immer wieder neu gestellt zu werden.
Das Kräfteverhältnis zwischen den Großmächten hat sich nach 1990 deutlich verschoben und mußte aus deutscher Sicht neu justiert werden. Mit Rußland im Gespräch zu bleiben, lag und liegt im Interesse Deutschlands, das, anders als Amerika, nicht durch ein Weltmeer von den Russen getrennt ist. Fast zwangsläufig ergab sich daraus eine Neubewertung der Beziehungen zu den USA, zur Bündnisfrage und ihrem ideologischen Kern, der Westbindung, die von den Lordsiegelbewahrern der Nachkriegspolitik zu einer Heiligen Allianz mit Ewigkeitscharakter stilisiert worden war.
Man muß jedoch kein Russenfreund und kein Verehrer Putins sein, um zu amerikanischen Präsidenten vom Schlage Reagans, Clintons oder George W. Bushs Distanz zu halten. Der von ihnen betriebene Unilateralismus, ein nettes Wort für eine rücksichtslose Außenpolitik, wurde von ihren europäischen Partnern als eine Zumutung empfunden, die nach neuen, selbstbewußten Antworten verlangte. Irritiert von der immer deutlicher zutage tretenden Neigung der US-Amerikaner, ihre europäischen Wurzeln zu kappen, fragten sie sich, ob es nicht Zeit sei, auf dem langen Weg nach Westen, den gläubige Historiker schon am Ziel gesehen hatten, eine Pause einzulegen, vielleicht sogar den einen oder anderen Schritt zurück zu tun.
Die derzeitige US-Politik  rechtfertigt eine Distanz
Mancher Europäer erinnert sich und fragt sich: Waren es nicht die Amerikaner, die ihren Entschluß, sich vom Mutterland loszusagen, mit den Verstößen begründeten, die sich der König von England gegen die von der Unabhängigkeitserklärung so leidenschaftlich beschworenen Menschenrechte hatte zuschulden kommen lassen? Wie schwer mochten diese von Jefferson als unveräußerlich proklamierten Rechte noch wiegen, wenn der Geheimdienst nicht bloß Ausländer, die neuerdings als Freiwild galten, sondern amerikanische Bürger, die Einwohner von „God’s own country“ selbst nach Lust und Laune ausspionieren durfe?
Was war von der Bill of rights, Teil der Verfassung immerhin, noch übrig, wenn sich US-Dienststellen erlaubten, Menschen willkürlich einzusperren und ohne Haftbefehl, ja ohne Aussicht auf ein ordentliches Verfahren jahrelang festzuhalten? Was die Gründerväter in ihren Urkunden dem people allgemein und den persons insgesamt versprochen hatten, sollte doch nicht nur für das Volk unter der Sonne gelten, sondern dem Grundsatz, der Idee nach für alle Völker der Welt und alle Menschen dieser Erde.
So war es jedenfalls gemeint. So hatten es die Jeffersons, die Madisons, die Hamiltons und wie die Gründerväter sonst noch hießen ursprünglich einmal gewollt. Noch in Wilsons 14 Punkten und in Roosevelts „New Deal“ klingt manches davon nach, zuletzt auch in der „Inaugural Address“, mit der Kennedy seine Landsleute dazu aufgefordert hatte, nicht immer nur danach zu fragen, was das Land für sie, sondern nach dem, was sie für das Land tun könnten.
Nach Kennedy sind diese Töne selten und immer dünner geworden; inzwischen sind sie ganz und gar verstummt. Sie haben einer grobschlächtigen Rhetorik Platz gemacht, die nicht mehr werbend, sondern drohend klingt. Carter hat es noch einmal anders versucht, mit kümmerlicher Resonanz; er ist von Reagan ausgestochen, von Clinton übertönt, vom jüngeren Bush dann geradezu überschrien worden. Noch vor zwei Generationen wäre ein Mann dieses Schlages als Präsident der westlichen Vormacht unvorstellbar gewesen. Er ist jedoch, wenn auch nur knapp, ins Amt gelangt, und manches spricht dafür, daß es demnächst noch ärger kommen könnte.
Frei von den Fesseln seines europäischen Erbes, glauben die neuen, die großmächtigen USA ohne Frohe Botschaft auskommen zu können. Außenpolitisch verlassen sie sich auf das Androhen und die Anwendung militärischer Gewalt – mit verheerenden Folgen, die sich im Nahen und im Fernen Osten eindrucksvoll besichtigen lassen. Innenpolitisch folgt es den Lehrsätzen der „Chicago boys“, die alles für käuflich halten und das, was noch nicht käuflich ist, so schnell wie möglich käuflich machen wollen. Unter der Peitsche der restlos freien Marktwirtschaft verwandelt sich das Leben in einen riesigen Geschäftsbetrieb, in dem das Geld darüber entscheidet, wieviel Freiheit und Sicherheit, Gerechtigkeit und Wohlfahrt dem einzelnen zusteht, was „er sich leisten kann“.
Seitdem sich amerikanische Politiker als Unternehmer verstehen – und so verstehen sich die Abgeordneten, die Senatoren und Präsidenten nun einmal – ,geht auch die Macht nach dem Geld, ist Politik käuflich geworden. One man, one vote hieß die Parole früher. One dollar, one vote heißt sie jetzt. Wenn das die Botschaft, die Doktrin der neuen Weltordnung sein sollte, von der die US-Amerikaner träumen, mag das in ihrem Interesse liegen. Im deutschen liegt sie sicher nicht.

Bild: Walter Hallstein mit Bundeskanzler Konrad Adenauer 1955: Die nach Hallstein, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, benannte Doktrin ging von einem politischen Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik aus. Diese Leitlinie (1955 bis 1969) betrachtete die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Deutschen Demokratischen Republik durch Drittstaaten als „unfreundlichen Akt“ der Bundesrepublik gegenüber. Bonn behielt sich vor, darauf mit wirtschaftlichen Sanktionen oder sogar mit dem Abbruch diplomatischer Beziehungen zu reagieren.