© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/15 / 18. September 2015

Am Ende stand die Kapitulation
Völkerwanderungen: Migrationen von gewaltigen Ausmaßen haben dramatische Folgen nach sich gezogen
Karlheinz Weißmann

Die Rede von der neuen „Völkerwanderung“ ist ebenso allgemein wie harmlos. Jedenfalls spricht niemand ungestraft von „Invasion“, wenn es um den Ansturm von Afrikanern, Arabern und Asiaten geht, der Europa erreicht. 220.000 Menschen waren es im vergangenen Jahr, in diesem wird mit bis zu einer Million gerechnet. 2016 dürfte die Zahl kaum kleiner werden.
Allein in Libyen sollen zwischen 600.000 und einer weiteren Million Kinder, Frauen, Männer – vor allem Männer, junge Männer – darauf warten, die Reise in den Norden anzutreten, dasselbe gilt für den größten Teil der zwei Millionen Syrer, die sich noch in der Türkei aufhalten, weitere vier Millionen sitzen in der Heimat auf gepackten Koffern. Das entscheidende Hindernis bleibt das Mittelmeer. Die Überquerung ist riskant, die Bilder gekenterter Seelenverkäufer oder von Schiffen, die die Schlepperbosse aufgegeben haben, wirken erschütternd, aber dabei wird vergessen, daß etwa 97 Prozent derjenigen, die die Fahrt unternehmen, sicher an einer europäischen Küste landen. Wo dann kaum jemand einen Asylantrag stellt, fast alle versuchen in attraktivere Aufnahmeländer wie Deutschland, Österreich, die Schweiz oder Schweden zu gelangen.
Niemand ist willens oder fähig, die gigantischen Menschenströme aufzuhalten. Faktisch hat die Bundesregierung das Abkommen Dublin III für obsolet erklärt, hintertreibt die Überprüfung der Ankömmlinge ebenso wie die Sicherung der Außengrenzen des Schengen-Raums. Es geht bloß noch um die Verteilung nach Quoten, nicht mehr darum, ob für den Verbleib eine Rechtsgrundlage besteht. Ein Limit bei der Aufnahme der Fremden, so die Kanzlerin, existiere nicht.
 

Bedeutungsverlust geographischer Barrieren


Das vor allem durch die Medien vermittelte Bild ist das eines mitleiderregenden, chaotischen, aber friedlichen und in seinen Konsequenzen wenn nicht vorteilhaften, dann doch unvermeidbaren Prozesses der „Migration“. „Migration“ bedeutet Wohnortwechsel. Solcher Wohnortwechsel hat immer zum Menschen gehört. Seitdem unsere tierischen Vorfahren von den Bäumen herabgestiegen sind, sich Skelett und Muskulatur dem aufrechten Gang angepaßt haben, ist unsere Spezies mobil. Wir haben uns zu exzellenten Läufern entwickelt, denen so rasch keine Beute entkommt, und begonnen, lange Distanzen zu überwinden. Die ersten großen Migrationen führten schon Homo erectus von Afrika bis nach Asien und Europa, Homo sapiens erreichte schließlich jeden Winkel des Planeten.


Viel spricht dafür, daß Migration das „Rad der Weltgeschichte“ (Alexander und Eugen Kulischer) ist. Das heißt, sie treibt Vorgänge an, deren Ablauf an Naturgesetze erinnert. Insofern jedenfalls, als die Wanderung der einen zur Wanderung der anderen führt, weil die einen die anderen abdrängen oder vertreiben, falls die einen die anderen nicht vernichten oder dauernd unterjochen. Seitdem die Erde eine dichtere menschliche Bevölkerung trägt, kann es solche Prozesse innerhalb von fester umgrenzten Gebieten geben oder zwischen ihnen. Oft spielt die relative Leere eines Territoriums eine Rolle, die Anziehungskraft auf jedes gefüllte oder überfüllte haben muß.
Wichtiger ist aber die Offenheit fast aller bevorzugten Siedlungsräume, die sich den Einwanderern als Zielpunkt förmlich anbieten, dann der Bedeutungsverlust geographischer Barrieren, der Fortschritt der Transportmöglichkeiten und die Tatsache, daß die Trennlinie zwischen friedlichem und kriegerischem Einzug immer fließend war, so wie die zwischen „Volk“ und „Heer“.

„Seevölkersturm“ zerstörte die mykenische Kultur

Friedrich Ratzel, der Vater der Geopolitik, hat darauf hingewiesen, daß es falsch sei, die Aufmerksamkeit nur auf die großen Völkerwanderungen im eigentlichen Sinn zu richten: „Auch in der Geschichte der Völker darf, wie in der Geschichte der Erde, die große Wirkung nicht immer gleich die gewaltige Ursache voraussetzen lassen. Die oft wiederholten Wirkungen kleiner Kräfte, die endlich zu hoher Summe ansteigen, sind hier wie dort in Rechnung zu setzen.“
Selbstverständlich gab es Migrationen von gewaltigen Ausmaßen, über lange Zeiträume, die dramatische Folgen nach sich zogen. Das gilt für das Vordringen der Arier nach Indien, aber auch für den langen Zug der Bantu von den Quellen des Nils in den Süden Afrikas, für die arabische oder die türkische Wanderung. Der wesentlich militärische Charakter dieser Migrationen war unverkennbar, genauso wie die Folgen einer dauerhaften Überschichtung von Seßhaften durch Nomaden, die zwar keinen zivilisatorischen Vorsprung besaßen, aber die Fähigkeit, „Herden“ zu kontrollieren.


Im Normalfall hatte die große Völkerwanderung allerdings einen weniger eindeutigen Charakter, erscheint eher als Zusammenspiel verschiedener Faktoren, gemäß der „wiederholten Wirkung kleiner Kräfte“, von der Ratzel sprach. Dazu gehören friedliche Grenzüberschreitungen einzelner und kleiner Gruppen, Entstehen einer Diaspora, Schaffung von Ghettos, tatsächliche oder scheinbare Assimilation, Aufrechterhaltung familiärer Bande und das Zusammenspiel mit den noch außerhalb Verbliebenen, Subversion und kriegerischer Akt.


So geht die neuere Forschung davon aus, daß es sich bei dem „Seevölkersturm“, der um 1200 v. Chr. die mykenische und die hethitische Kultur zerstörte und sogar das Pharaonenreich gefährdete, weniger um einen Angriff bronzezeitlicher Wikinger als um eine Kombination von allmählicher Infiltration, militärischen Vorstößen und der Übernahme menschenleerer Gebiete durch Stämme auf Landsuche handelte. Ausschlaggebend war allerdings nach Meinung des Archäologen Eric H. Cline der Zusammenbruch jener „sozio-politischen Systeme, die immer komplexer und damit immer anfälliger für einen Kollaps wurden“ (Antike Welt, 4/2015, Titelthema: Untergang der mykenischen Kultur).


In vieler Hinsicht wird man dieselbe Feststellung auch auf die germanische Völkerwanderung übertragen können, die das Ende des weströmischen Reiches heraufbeschwor. Die Folgen für den Stand der Zivilisation waren verheerend. Darüber geben nicht nur der Größen- und Gewichtsschwund der Haustierrassen, das Versiegen der Edelmetallvorräte und das Sinken der Lebenserwartung Aufschluß, sondern auch der Verlust zentraler technischer Kenntnisse.
Eine Amphore, wie sie im Fürstengrab von Sutton Hoo als Beigabe eines angelsächsischen Edlen geborgen wurde, war in besserer Ausführung Massenware der römischen Zeit, die man achtlos zerschlug, sobald sie ihrem Zweck gedient hatte. Ein Gebäude ähnlich dem von Alt-Sankt Peter in Rom konnte kein germanischer Baumeister errichten; die Kirchen des Frühmittelalters erreichten kaum das Ausmaß seines Chorraums. Straßen, Brücken, Wasser- und Heizungsanlagen wußte niemand instand zu halten. Sie verkamen wie das hochentwickelte Verkehrs- und Nachrichtensystem des Imperiums.
Neben der Interpretation der Funde steht die der – schmalen – Quellenbasis, die vor allem Aufschlüsse gibt in bezug auf das Verhältnis zwischen der eingesessenen Bevölkerung und den Invasoren. Das Vordringen der Barbaren führte zum Zusammenbruch des Imperiums von den Rändern her. Die Zentrale überließ die Provinzialen nach und nach sich selbst. Wer nicht in eine sichere Zone ausweichen konnte, mußte selbst für seinen Schutz sorgen. Es entstanden in den von Militär entblößten Territorien Bürgerwehren, und einzelne Warlords rissen die Macht an sich.

Pogrome der Migranten gegen die Autochthonen

Von Dauer waren diese Aushilfen aber nicht. Es gab längst keine Möglichkeit mehr, die Germanen durch Tribute oder Vertragsabschlüsse zu befrieden, sie hatten fallweise natürliche Alliierte in denjenigen Germanen, die in römischen Diensten standen, aber auch in den proletarisierten Unterschichten oder den Sklaven, die sich zum Beispiel den Goten Alarichs bei der Belagerung Roms 408/09 anschlossen. Über die Eroberung Galliens zu diesem Zeitpunkt hieß es in einem zeitgenössischen Text: „Einige lagen da wie Futter für die Hunde; bei vielen nahm ein brennendes Dach zum einen ihre Seele und äscherte zum anderen ihren Körper ein. In Dörfern und Landhäusern, auf dem Land und auf dem Marktplatz, in allen Gebieten, auf allen Straßen, an diesem Platz und jenem war da Tod, Elend, Zerstörung, Brennen und Klagen, ganz Gallien brannte auf einem einzigen Scheiterhaufen.“


Am Ende blieb nichts als bedingungslose Kapitulation. Für die, die mit dem Leben davonkamen, bedeutete das oft Enteignung, dauerhafte Verarmung oder Versklavung. Wer mehr Glück hatte, mußte sich den neuen Herren anpassen. Typisch war die Situation jener Kleinpächter, die ihr Land behalten durften, wenn sie nun einem germanischen Großgrundbesitzer ablieferten und dienten, oder auch die der Gebildeten, die am Hof des Vandalenreiches selbstverständlich vandalische Kleider trugen; eher ungewöhnlich, aber symptomatisch, das Verhalten jenes römischen Adligen, der eifrig Gotisch lernte und seinen Söhnen gotische Vornamen gab. Die Unterschiede verschwanden aber trotzdem nicht. Noch um 500 legte die Lex Salica fest, daß das Leben eines Franken im Gefolge des Königs für doppelt so wertvoll zu erachten sei wie das eines Römers. Beispiele für ein ausgebautes und langlebiges Apartheidsystem sind auch aus anderen Germanenreichen bekannt, genauso wie die Menge der Pogrome, die die Migranten gegen die Autochthonen veranstalteten.


Lange Zeit hat man die germanische Völkerwanderung als „Fall der Fälle“ betrachtet, eine Art Menetekel, als Warnung, daß, wenn schon ein Reich wie das römische sterblich war, dasselbe auch für jede andere menschliche Ordnung gilt. In der Gegenwart weicht man dieser Analogie eher aus. Der Historiker Alexander Demandt hat allerdings jüngst ganz unumwunden festgestellt, daß es durchaus berechtigt sei, einen direkten Vergleich zwischen der germanischen und der heutigen Völkerwanderung zu ziehen: „Erstens, was die Zahl der Migranten angeht. Zweitens, was die Art ihrer Bewegung betrifft; (…) Drittens war die Motivation der spätantiken Völkerwanderung im wesentlichen die gleiche wie bei der gegenwärtigen Migration.“ („Das war es dann mit der römischen Zivilisation“, Die Welt vom 11. September)

Bild: Germanen auf der Wanderung, Holzstich nach einer Zeichnung von Otto Knille (1832–1898): Das Vordringen der Barbaren beschwor das Ende des weströmischen Reiches herauf