© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/15 / 18. September 2015

Deutschland ruiniert sich
Verfassung, Werte, Tugenden: Wir können nicht jeden aufnehmen, der das wünscht
Konrad Adam

Es ist nicht allzu lange her, daß die Deutschen der fünfzigsten Wiederkehr des Jahrestages gedachten, an dem das Grundgesetz verkündet worden war. Politiker aller Parteien nahmen das zum Anlaß, die neue deutsche Verfassung als musterhaft, als Leitbild für die Welt zu rühmen und zu preisen.
Tatsächlich sind die Deutschen mit dieser Verfassung, der besten, die sie in ihrer wechselvollen Geschichte jemals besessen haben, gut gefahren. So gut, daß wohlmeinende Geister auf den Gedanken kamen, als einzig zulässige Form des Nationalbewußtseins, das sie, widerwillig genug, auch den Deutschen zugestanden, den Verfassungspatriotismus, den Stolz aufs Grundgesetz empfehlen.
Genutzt hat dieser blutleere Gedanke dem Grundgesetz so gut wie nichts. Es ist zwar oft verändert, aber nie verbessert worden; im Gegenteil. Sein sechzehnter Artikel, der das Asylrecht regelt, ist das Musterbeispiel für einen gründlich mißlungenen Eingriff, dessen desaströse Folgen erst mit der Zeit sichtbar geworden sind. „So ruiniert man eine Verfassung“, meinte ein erfahrener Staatsrechtslehrer mit Blick auf den maßlos aufgeschwemmten, mit allerlei Kautelen, Vorbehalten und Ausnahmeregeln gespickten Text. Und nicht nur eine Verfassung, sondern ein ganzes Land.
Was ist aus der Meinungsfreiheit geworden, nachdem sie einer politisch korrekt verlogenen Sprachpolizei in die Hände gefallen ist? Was aus der Versammlungsfreiheit, gedacht als Recht des Bürgers, sich gegen die Anmaßung der Staatsgewalt demonstrativ zur Wehr zu setzen? Sie wurde auf den Kopf gestellt und dient inzwischen der Regierung als Vorwand, gegen das Volk, den großen Lümmel, mobil zu machen. Selbst die Wohnung, letztes Refugium des selbstbestimmten Lebens, ist nicht mehr unverletzlich, nicht länger vorm Zugriff der Behörden sicher, wenn die „Anständigen“ zum Aufstand blasen und mit Einquartierung drohen.
Sie haben die Rolle des Gastes umdefiniert. Ursprünglich war der Gast ja einer, der nicht nur kam, sondern irgendwann auch wieder ging. Das Gehen ist neuerdings aber nicht mehr vorgesehen, die Gäste sollen bleiben; wenn es nach – stellvertretend für die politische Klasse – Volker Kauder (CDU) und Thomas  Oppermann (SPD) und der von ihnen definierten Willkommenskultur geht, für immer. Denn darin sind sich alle, Konservative und Progressive, Arbeitgeber und Gewerkschafter von links bis rechts einig: Deutschland braucht Arbeitskräfte. Soll heißen: In Deutschland wird der Mensch nach seiner Arbeitskraft taxiert. Wenn er die mitbringt, ist er willkommen.
Was er auch sonst noch mit sich bringt, was er glaubt und fühlt, ersehnt und verabscheut, läßt sich nur schwer taxieren – und zählt deswegen nicht. Heinrich Heine hatte gut lachen über die preußischen Zöllner, die seine Koffer nach verbotenen Büchern durchsuchten: „Ihr Toren“, amüsierte er sich, „die ihr im Koffer sucht. Hier werdet ihr nichts entdecken! Die Contrebande, die mit mir reist, Die hab’ ich im Kopfe stecken“. Köpfe sind schwer zu durchschauen,  deswegen winkt man sie in Deutschland einfach durch. Hier zählen Hände, allenfalls noch Füße, sonst nichts.

Gast war einer, der irgendwann auch wieder ging. Das Gehen ist neuerdings aber nicht mehr vorgesehen.
 
Heines Contrebande haben wir kennen und schätzen gelernt. Von dem, was Tausende von Flüchtlingen, Zuwanderern, Asylanten und Migranten an Konterbande mit sich führen, wissen wir aber so gut wie nichts. Uns reicht die Unterstellung, daß die Menschen, und zwar alle Menschen, lieber im Frieden leben als im Krieg sterben wollen. Die meisten würden dem wohl zustimmen; die Selbstmord-attentäter und die schwarzen Krieger, die in Syrien und dem Irak den islamischen Gottesstaat errichten wollen, aber sicher nicht. Und Solon, der kluge Gesetzgeber der Athener, glaubte es auch nicht, denn glücklich erschien ihm sein Landsmann Tellos – nicht obwohl, sondern weil er im Kampf für die Stadt gefallen war.
Die Völkerwanderung, die jetzt Eu-ropa überrollt, könnte und sollte für alle Europäer Anlaß sein, sich über den prekären Rang und die akute Gefährdung ihrer alles andere als universell gültigen Werte klarzuwerden. Und sich zu fragen, was aus ihrer Bedingtheit und Begrenztheit denn nun folgt – für sie selbst und für den Rest der Welt. Das tun die Europäer aber nicht, das überlassen sie den anderen, die diese Abgrenzung auf ihre Art besorgen, indem sie die Minderwertigkeit der Frau und die Verpflichtung des Mannes, seine und ihre Ehre mit dem Messer in der Hand zu verteidigen, als göttliches Gebot ausgeben.
Wer glaubt, die säkulare Herausforderung, der sich Europa gegenübersieht, mit Zeltstädten und Integrationskursen, mit Tee und warmen Decken bestehen zu können, ist im besten Fall naiv. Denn jetzt geht es ums Ganze. „Das demokratische Recht ist das Recht aller Bürger, ihr Land zu verlassen; es ist aber nicht das Recht aller Bürger dieser Welt, in dieses oder jenes Land einzureisen und sich dort dauerhaft niederzulassen. Eine Demokratie, die sich herbeiließe, jeden, der es wünscht, aufzunehmen, würde diese Regelung nicht überleben“ – sagt kein Rechter aus Deutschland, sondern ein linker Franzose,  der Philosoph und Essayist André Glucksmann.

Wenn Europa, so weitermacht, ruiniert es die Menschenrechte, die zu verteidigen es vorgibt.

Vielleicht muß man Franzose sein, um von den westlichen Werten, die ja in Frankreich zur Welt gekommen sind, von der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit, eine realistische Vorstellung zu haben. Und einzusehen, daß Euro-pa, wenn es so weitermacht, eben die Menschenrechte ruiniert, die zu verteidigen es vorgibt. Diese Rechte sind an eine bestimmte Kultur gebunden und setzen Tugenden voraus, die Zeit brauchen, um zu reifen. Diese Zeit wollen ihnen die Deutschen aber nicht lassen. Sie wollen Vorbild sein und der Welt ein Beispiel geben, egal, in welcher Disziplin, im Fußball oder im Autoexport, in Blitzkriegen, Endsiegen oder was auch immer: „Wir schaffen das!“
Man sehnt sich händeringend nach einer Alternative.