© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/15 / 18. September 2015

Ein verschmähtes Kind der Militärjunta
Chile: Primus Lateinamerikas als Folge eines neoliberalen Laborexperiments
Lukas Noll

Santiago de Chile

Gut 42 Jahre sind vergangen, seit der chilenische Präsidentenpalast unter Beschuß stand, doch die Einschußlöcher sind noch immer zu sehen. Die beiden Kugeln, die Salvador Allende töteten, stammten jedoch von ihm selbst. Lateinamerikas erster demokratisch gewählter Marxist wollte den putschenden Militärs um General Augusto Pinochet zuvorkommen. Eine Obduktion bestätigte die oft in Zweifel gezogene Selbstmordtheorie 2011 noch einmal abschließend. Es war nicht das erste Mal, daß sich Chile von seiner blutigen jüngeren Vergangenheit hat einholen lassen. Der Putsch vom 11. September ist für die Chilenen omnipräsent, spätestens dann, wenn sich zu seinem Jahrestag wieder Demonstranten mit Gegendemonstranten darüber streiten, ob ihr Land an jenem Tage beerdigt oder geboren wurde.

Kapitalismus pur mit
einigen Schönheitsfehlern
 
In der Bringschuld dürften dabei in erster Linie jene Kräfte sein, die dem Sozialisten Allende und seinem gescheiterten Gesellschaftsexperiment noch immer nachtrauern: Wäre Chile beerdigt worden, müßte es schließlich tot sein. Das schmale Land, das sich an Südamerikas Pazifikküste 4.300 Kilometer von der Atacama-Wüste bis nach Patagonien hinabschlängelt, ist in den vergangenen Jahrzehnten regelrecht aufgeblüht. Gemessen am Pro-Kopf-Einkommen von über 17.000 US-Dollar schloß das einstige Armenhaus zum wirtschaftlichen Niveau osteuropäischer Staaten auf und setzte sich neben Uruguay an die Spitze der lateinamerikanischen Länder.
Seit 2010 ist Chile der einzige süd-amerikanische Mitgliedsstaat der OECD: bei der Entwicklungszusammenarbeit fungieren die Chilenen inzwischen teilweise als Geberland. „Was in den anderen Ländern Slums und Favelas sind, sind hier lediglich ärmere Wohngegenden“, sagt Nicolas Figari, Geschäftsführer der Unión de Partidos Latinoamericanos, einem Bündnis konservativer Parteien. „Barfuß muß hier niemand mehr laufen“.
Zwar hängt das Land beim Gini-Koeffizienten, der die gesellschaftliche Ungleichverteilung mißt, auf den hintersten Plätzen. Doch im Vergleich zu anderen Ländern der Region ist es gelungen, auch seine Ärmsten aus einer extremen Armut zu befreien: Galten 1990 noch beinahe 40 Prozent der Bevölkerung als arm, sind es heute laut dem CEPAL-Bericht noch knapp acht Prozent, in extremer Armut und Obdachlosigkeit ferner 2,5 Prozent. Und längst stuft die „Risk Map“ das südamerikanische Land auf einem Sicherheitsniveau mit Kanada und Australien ein, trotz gelegentlicher Sabotage-Akte seitens der umtriebigen Mapuche-Indianer im mittleren Süden Chiles. Die größten Kupfervorkommen der Welt, chilenischer Wein und die 2014 mit Hapag-Lloyd zur viertgrößten Reederei fusionierte CSAV tragen zu einer Exportquote bei, die dem Land eine Marktoffenheit auf deutschem Niveau bescheinigt und eine dauerhaft positive Außenhandelsbilanz beschert. Europäischem Niveau nähern sich zum Unmut mancher Ökonomen allerdings auch die Wachstumszahlen an: Nachdem die chilenische Wirtschaft jahrelang konstant über fünf Prozent pro Jahr wuchs, werden für 2015 nur noch zwei Prozent erwartet. Anders sieht es bei der Staatsverschuldung aus: Trotz jahrzehntelangem Aufschwung sind Chiles Regierungen nur selten in die Versuchung geraten, sich über ihre Verhältnisse hinaus zu verschulden: Mit gerade 16,5 Prozent befindet sich das Land auf dem 144. Platz weltweit – im positiven Sinne.
 Es ist der offene Markt, der das neue vom alten Chile unterscheidet. Wo die Chilenen früher Schlange standen für Lebensmittelrationen, findet man heute in jedem Gäßchen einen Ableger der Monopolbäckerei Castaño und haben milliardenschwere Ketten die kleinen Tiendas ersetzt. Der Kapitalismus hat Chile reich und funktionstüchtig gemacht, aber auch an nationaler Tradition und an lateinamerikanischem Flair gekostet.
Daß sich Chile auf dem Weg Richtung Nordamerika und Europa begreift, schallt durch jedes englischsprachige Lied, das im Radio ertönt – eine kulturelle Dominanz aus dem Norden, die in den anderen lateinamerikanischen Ländern rar ist. Da verwundert es wenig, daß der Kapitalismus wohl nur in wenigen Ländern in einer so reinen Form bestaunt werden kann wie in Chile. Elemente einer sozialen Marktwirtschaft fehlen beinahe völlig – auch wenn Chiles sozialistische Präsidentin Michelle Bachelet gegensteuern will, vor allem im bislang weitgehend privatisierten Bildungssektor, der in den vergangenen Jahren erhebliche Studentenproteste auf die Straßen trieb. „Es fehlt an ökonomischem Ausgleich und Subsidiarität“, bemängelt selbst ein Vertreter des konservativen Thinktanks Libertad y Desarollo manch strukturelle Eigenheit des ungezügelt freien Marktes. „Das ist doch kein Wettbewerb mehr. Von einem Kartellamt fehlt hier jede Spur.“
Nicht nur emotional im Sinne der vielen Verschwundenen und rund 3.000 Todesopfer von Putsch und Diktatur, auch ökonomisch markiert der 11. September 1973 hierbei eine Zäsur für das Land. Denn über Umwege brachte der Militärputsch Chile ebenjene freie Marktwirtschaft – samt ihres Wohlstands, samt ihrer Exzesse. Zwar drohten die Militärs trotz wirtschaftsliberaler Zielsetzungen anfangs, die Staatswirtschaft der beseitigten Vorgängerregierung fortzusetzen. Zu groß waren die Berührungsängste mit dem wirtschaftsliberalen Bürgertum von beiden Seiten aus: mit dem die Menschenrechte mit Füßen tretenden Regime zu kooperieren einerseits, die Macht mit unzuverlässigen „Zivilen“ zu teilen andererseits.

Trotz allem: „Chicago Boys“ im Schatten Allendes

Daß die Militärs nach der mehrheitlich befürworteten Intervention nicht wieder in ihre Kasernen zurückkehren würden, damit hatte niemand gerechnet. Doch der nach einer weiteren Rezession um wirtschaftliche Erfolge bangende Pinochet ließ sich schon 1975 von der Notwendigkeit wirtschaftlicher Reformen überzeugen und erklärte sich bereit, seine Generäle in die zweite Reihe treten zu lassen. Das Ruder über mehrere Ministerien übernahmen die Chicago Boys, eine Gruppe chilenischer Wirtschaftswissenschaftler, die an der Chicago School of Economics unter dem Starökonomen Milton Friedman studiert hatten.
Das erklärte Ziel: ihr Land zum marktliberalen Laborexperiment zu machen. Schnell genug konnte es dabei nicht gehen. Bereits im März 1975 rief dem Diktator sogar Milton Friedman selbst bei einem Besuch ins Gewissen: Die Junta mahnte er zur „Schockbehandlung“. Eine Politik der kleinen Schritte berge die Gefahr, daß der Patient sterbe, bevor die Behandlung wirke.
 Der General willigte ein, ließ sich von Friedman sogar Anweisungen vorlegen. Teils akribisch Friedmans Buch „Kapitalismus und Freiheit“ folgend, krempelten seine Chicago Boys schließlich die chilenische Wirtschaftsordnung um: Von den Schlüsselindustrien über das Rentensystem bis hin zu kleinen Bächen wurde das Land privatisiert, die Öffnung zum Weltmarkt hin mit drastischen Zollsenkungen exerziert. Binnen sechs Jahren gelang es den Ökonomen, die Inflation von 340 auf neun Prozent herabzusenken. Das „Wunder von Chile“, wie es Friedman selbst ausdrückte, schien perfekt.
Doch die Chicago Boys hatten sich zu früh gefreut: Die Rezession von 1982 holte frühe Optimisten in die Realität zurück und ließ eine Bankenkrise folgen. Eine drastisch ansteigende Arbeitslosigkeit führte zu sozialen Unruhen, das Experiment wurde für gescheitert erklärt. Der Diktator sah die Zeit gekommen, die „Boys“ in den Ruhestand zu schicken und ersetzte sie durch pragmatischere Wirtschaftsliberale. Ihre Verdienste um einen erfolgreich herbeigeführten Wohlstand wurden unter den Teppich gekehrt. Die Straßenschilder der chilenischen Großstädte, von Iquique im Norden bis nach Punta Arenas in Antarktisnähe ziert nicht ihr Name, sondern der Salvador Allendes.

Bild: Kathedrale und Bürotürme in Santiago de Chile: Zwei Welten an der Plaza de Armas