© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/15 / 11. September 2015

Grobe Zimmermannsarbeit
NS-Diskriminierung der Juden: Die Nürnberger Gesetze als Waffe im erinnerungspolitischen Krieg gegen das Eigene
Wolfgang Müller

Die drei Gesetze, die der kurzzeitig an die Pegnitz verlegte Deutsche Reichstag am 15. September 1935 auf dem nationalsozialistischen „Parteitag der Freiheit“ mit gewohnter Einstimmigkeit verabschiedete, figurieren in der zeithistorischen Literatur als „Nürnberger Rasse-“ oder „Rassengesetze“. Eine Bezeichnung, die verwundert, da der Begriff „Rasse“ in den nur wenige Paragraphen umfassenden Gesetzen gar nicht vorkommt. 

Wie sich von selbst versteht, fehlt er im „Reichsflaggengesetz“, das die Farben der Weimarer Republik, die auch der NSDAP fernstehende Konservative als „Schwarz-Rot-Mostrich“ verachteten, durch Schwarz-Weiß-Rot ersetzte und als Reichs- und Nationalflagge die Hakenkreuzflagge bestimmte. Aber von Rasse ist ebensowenig in den beiden anderen, diesen Begriff scheinbar zwingend erfordernden Texten die Rede, dem „Reichsbürgergesetz“ und dem „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“. 

Ersteres führte, wie es im Gesetzeskommentar von Hans Globke und Wilhelm Stuckart heißt, die „politische“, öffentlich-rechtliche Scheidung zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volk durch. Nur wer „deutschen und artverwandten Blutes“ ist, könne mehr als bloß „Staatsangehöriger“, nämlich der mit vollen politischen Rechten ausgestattete „Reichsbürger“ sein. Hingegen regelt das „Blutschutzgesetz“ die „privaten“ Beziehungen, indem es Eheschließungen und den außerehelichen Verkehr zwischen Deutschen und Juden verbietet. 

Nach heftigem Tauziehen um die Definition, wer als „Jude“ zu klassifizieren sei, legte die Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935 fest, daß Jude sei, wer von mindestens „drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern“ abstamme, wobei die als „volljüdisch“ gelten, wenn sie der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörten. Eine „grobe Zimmermannsarbeit“, wie diese Verlegenheitslösung, die für Rasse auf Religion rekurriert, ein Mitarbeiter Stuckarts nannte. Aber immerhin hatte sich damit die „milde“, von den Reichsministerien des Innern, der Justiz und der Wirtschaft sowie vom Auswärtigen Amt verfochtene, von Adolf Hitler gebilligte Linie durchgesetzt, die immerhin etwa 300.000 „Mischlinge ersten und zweiten Grades“, „Halb- und Vierteljuden“, als Reichsbürger der Ausgrenzung, die etwa eine halbe Million „Volljuden“ traf, entzog.

Juden werden die vollen politischen Rechte entzogen

Verstärkte zeithistorische und erinnerungspolitische Aufmerksamkeit erfuhren diese Gesetze erst nach der Wiedervereinigung von 1990, als Deutungsmuster wie Totalitarismustheorie oder Sonderwegsthese abgelöst wurden von der reduktionistischen Betonung des „radikalrassistischen“ Charakters der NS-Herrschaft. Ein Konstrukt, das half, den kaum wiedergewonnenen Nationalstaat frühzeitig zu delegitimieren und den gegenwärtig anscheinend „unumkehrbar“ werdenden „Umbau Deutschlands zum Vielvölkerstaat“ (Berthold Kohler, FAZ vom 3. September 2015) geistig vorzubereiten. 

Entsprechend lieferte Cornelia Ess-ners Berliner Habilitationsschrift von 2002 zwar eine detaillierte Rekonstruktion der Entstehungs- und der Wirkungsgeschichte der Nürnberger Gesetze im Rahmen der judenfeindlichen NS-Politik bis 1942. Aber ungeachtet aller positivistischen Akribie, ist Essners Standardwerk doch das Zeugnis eines „hilflosen Antifaschismus“ (Wolfgang Fritz Haug). Denn es geht ihr, wie Dutzenden von Gedenkrednern und flinken Verfassern von Bewältigungspamphleten, nicht um das Verstehen der historischen Rahmenbedingungen einer um die „Reinheit des deutschen Blutes“ als „Voraussetzung für den Fortbestand des deutschen Volkes“ (Präambel des Blutschutzgesetzes) bemühten Politik, sondern primär um moralische Verdammung eines an den Nürnberger Gesetzen exemplifizierten „Naziklassifizierungswahns“ oder „rassistischen Irrationalismus“. Damit beschreibt sie fraglos richtig die schrecklichen Folgen für die Juden nach 1935 mitsamt der durch die Nürnberger Gesetzgebung eingeleiteten Verfolgung und Entrechtung, der letztlich im Massenmord endete. Der abschließende Hinweis auf die für Wahnphänomene zuständige Psychoanalyse greift allerdings in der Analyse des geistigen Ursprungs zu kurz.

Zu den „Wahnsinnigen“, die in den 1930ern auf Grenzen, Abgrenzung, Unterscheidung, Distanz, Identität Wert legten, gehörten demnach auch orthodoxe Juden, deren positive Reaktion auf diese Kodifizierung Saul Friedländer hervorhebt. Oder die ebenso Dissimilation favorisierenden Zionisten in Deutschland und in Palästina. Orthodoxe und zionistische Juden kommen in klitternden Aufbereitungen der NS-Rassenpolitik, die bereits Eingetroffenes vorhersagen und für die das Nürnberger Gesetzeswerk regelmäßig nur das „Tor zu den Gaskammern“ aufstieß (Brandenburgs Justizstaatssekretär Rainer Faupel, 1995), indes genausowenig vor wie die strikte Rassentrennung, die in US-Bundesstaaten bis in die 1960er regierte, wie die Apartheid in Südafrika oder die faktischen Rassenschranken, die im britischen Empire und in den übrigen westeuropäischen Kolonialreichen nicht überschritten werden durften.

Gemessen am weltweit geltenden Primat der Kultivierung des Eigenen im Pluriversum der Völker, wirkt die im Dritten Reich etablierte „Apartheidgesellschaft“ (Essner) der dreißiger Jahre mithin beinahe wie das pervertierte Resultat der Aufholjagd einer „verspäteten Nation“.