© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/15 / 11. September 2015

Abschließende Regelungen
Der Zwei-Plus-Vier-Vertrag beendete ein Kapitel der Nachkriegsgeschichte: Preis der Unabhängigkeit war der endgültige Verzicht auf Ostdeutschland
Karlheinz Weißmann

Politische Vertragswerke sind regelmäßig umstritten. Aber selten gehen die Urteile so weit auseinander wie im Fall des „Vertrags über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ – gewöhnlich: „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ –, der am 12. September 1990 unterzeichnet wurde. Das Spektrum reicht von der harschen Kritik des damaligen US-Botschafters in Bonn, Vernon Walters – „Niemals in der Geschichte der Menschheit haben so wenige mit so vielen über Dinge verhandelt, von denen sie so wenig verstanden“ – bis zur Behauptung, es gehe um ein „Meisterwerk der Diplomatie“, das die Aufnahme in das „Weltdokumentenerbe“ der Unesco rechtfertigte.

Die entscheidenden Punkte des Abkommens, das zwischen der Bundesrepublik und der DDR (die „Zwei“) und den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs, den USA, der Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich (die „Vier“), geschlossen wurde, sind rasch umrissen: Die Außengrenzen des zukünftig vereinten – nicht „wiedervereinigten“ – Deutschlands sollten denen der Bundesrepublik und der DDR entsprechen, die Truppenstärke der Bundeswehr auf 370.000 Mann verringert werden; die deutschen Streitkräfte würden keine ABC-Waffen besitzen; bis zum Abzug der Roten Armee vom Territorium der DDR durfte es keine Stationierung von Nato-Truppen auf deren Gebiet geben, nach der Räumung keine von ausländischen Nato-Truppen oder Atomwaffen.

Diese aus der historischen Distanz wenig spektakulär wirkenden Abmachungen erschienen in den dramatischen Monaten zwischen dem Mauerfall vom November 1989 und dem Datum der Unterzeichnung keineswegs als selbstverständlich erreichbare Ziele eines Abkommens. 

Der Grund waren massive Widerstände gegen den Prozeß der Vereinigung, die weder beim Beginn der Verhandlungen am 5. Mai 1990 in Bonn noch bei den folgenden Zusammenkünften in Berlin am 22. Juni und in Paris am 17. Juli ausgeräumt werden konnten. An der Tagung in der französischen Hauptstadt nahm außerdem die polnische Regierung teil, die vor Beginn des Zwei-plus-Vier-Prozesses mehrmals versucht hatte, ein Mitspracherecht zu reklamieren, dabei aber keine Unterstützung in Washington und Moskau fand. 

Paris und London spielten ein fatales Doppelspiel

Auch wenn die Reparationsforderungen abgewiesen wurden, erreichte Warschau immerhin, daß Bundestag und Volkskammer bereits am 21. Juni 1990 gleichlautende Erklärungen über die Anerkennung der polnischen Westgrenze abgaben; ein Grenzvertrag, der tatsächlich den Verzicht auf die ostdeutschen Gebiete erklärte, konnte allerdings aus völkerrechtlichen Gründen erst durch das vereinte Deutschland am 14. November 1990 abgeschlossen werden.

Die polnischen Störmanöver beunruhigten die Regierung Kohl nicht nur, weil sie im Bundestag und in der nun postkommunistischen DDR-Führung massive Unterstützung fanden, sondern auch weil die wichtigsten europäischen Bündnispartner, Frankreich und Großbritannien, ein „Doppelspiel“ spielten, wie es Kohl höflich bezeichnet hat, das heißt zwar nach außen an ihrer Verpflichtung festhielten, die Deutschen in ihrem Streben nach Einheit zu unterstützen, aber gleichzeitig jede Gelegenheit nutzten, um den Weg da hin wenn schon nicht zu verstellen, dann doch zu verlängern.

Als die Wiedervereinigung nur eine entfernte Möglichkeit war, hatte sich der französische Staatspräsident, der Sozialist François Mitterrand, unverbindlich aber wohlwollend zur Selbstbestimmung der Deutschen geäußert. Sein Blitzbesuch in Kiew am 6. Dezember, um mit der sowjetischen Spitze zusammenzukommen, und ein Staatsbesuch in der DDR vom 20. bis 22. Dezember 1989 erweckten zu Recht den Eindruck, daß er die Wiedervereinigung zu hintertreiben suchte. Einer seiner Vertrauten, Jacques Attali, beschwor denn auch Moskau, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um die DDR am Leben zu erhalten, der Gedanke an die deutsche Einheit löse in Paris „Panik“ aus.

Neben einem ganz traditionellen Verständnis von französischer Außenpolitik spielte für Mitterrand eine Rolle, daß er den Zweiten Weltkrieg erlebt hatte und ein entsprechendes Bild der „deutschen Gefahr“ nicht loswerden konnte. Das verband ihn bei allen sonstigen Differenzen mit der britischen Premierministerin, der Konservativen Margaret Thatcher, die in einem Wutanfall Kohl entgegengeschleuderte: „Zweimal haben wir die Deutschen geschlagen! Jetzt sind sie wieder da!“ 

Thatchers Ziel war es im Frühjahr 1990 vor allem, die Wiedervereinigung durch eine Übergangsperiode zu verschleppen. Bei einem internen Expertentreffen, das sie im März des Jahres einberief, wurden auch Stimmen laut, die forderten, einer neuen deutschen Hegemonialstellung auf dem Kontinent entgegenzutreten. Daß es sich bei solchen Auffassungen keineswegs um die Meinung von Außenseitern handelte, war an dem Skandal zu erkennen, den der britische Handels- und Industrieminister Nicholas Ridley erregte, der im Juli meinte, öffentlich vor den Deutschen warnen zu müssen, Kohl mit Hitler verglich und die Franzosen die „Schoßhündchen der Deutschen“ nannte. Erst auf Grund erheblichen Drucks fand sich die Premierministerin bereit, das von ihr geschätzte Kabinettsmitglied zu entlassen.

Wirksame Schritte, den Einigungsprozeß zu behindern, konnten Großbritannien und Frankreich aber schon deshalb nicht unternehmen, weil in einem solchen Fall das Eingreifen der Vereinigten Staaten zu gewärtigen war. Tatsächlich zeigte Washington erstaunlich wenig Vorbehalte gegen die Wiedervereinigung. Bereits bei einem amerikanisch-sowjetischen Gipfeltreffen auf der Insel Malta am 2. und 3. Dezember 1989 hatte Präsident George Bush seine prinzipielle Unterstützung für die Deutschen signalisiert. Während der Nato-Tagung in Brüssel am 4. Dezember wiederholte er seine Auffassung, daß die deutsche wie jede Nation ein Recht auf Selbstbestimmung habe, allerdings ein vereintes Deutschland Teil von Nato und Europäischer Gemeinschaft sein müsse.

Deutlich anders lagen die Dinge im Fall der Sowjetunion, von der anfangs kaum jemand glaubte, daß sie die DDR aufgeben, geschweige denn der Verankerung eines vereinten Deutschlands im Westen zustimmen würde. Noch bei einem Besuch des bundesdeutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher in Moskau Anfang Dezember 1989 hatte Gorbatschow seine Verärgerung über die „künstliche Beschleunigung“ des Einigungsprozesses zum Ausdruck gebracht. 

Aber als Kohl dann am 10. Februar selbst mit ihm in Moskau zusammentraf, erkannte der sowjetische Staatschef das deutsche Recht auf Selbstbestimmung ausdrücklich an. Es blieb aber bei einem Vorbehalt gegenüber der gesamtdeutschen Nato-Mitgliedschaft. Die Position Gorbatschows in dieser Frage blieb verhärtet bis zum Sommer 1990. Erst bei den Gesprächen zwischen Kohl und Gorbatschow im Kaukasus am 15. und 16. Juli wurde wirklich ein Durchbruch erzielt. 

Der Grund für die Bereitschaft Moskaus, auf einen mehrjährigen Übergangszeitraum, in dem die Vorbehaltsrechte der Sieger weiterbestanden hätten, und auf die Demilitarisierung der ehemaligen DDR zu verzichten und die Nato-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland zu akzeptieren, lag wahrscheinlich in der allgemeinen Entspannung, dem rapiden Verlust der sowjetischen Machtposition durch die Auflösung des eigenen territorialen Bestandes – am 11. März 1990 hatte Litauen als erste Sowjetrepublik seine Unabhängigkeit von der UdSSR erklärt – und des Warschauer Paktes sowie der Bereitschaft der Bundesregierung, die wirtschaftlichen Verpflichtungen der DDR gegenüber der Sowjetunion zu übernehmen, erhebliche Zahlungen für den Rückzug der russischen Truppen zu leisten und eine neue Kreditaufnahme Moskaus zu unterstützen.

Faktisch an die Stelle eines Friedensvertrags getreten

Die Bundesregierung hat in einer Denkschrift zum Zwei-plus-Vier-Vertrag festgehalten, daß mit dessen Unterzeichnung der „Schlußpunkt der europäischen Nachkriegsgeschichte“ gesetzt worden sei. Dieser Einschätzung kann man insofern zustimmen, als die Übereinkunft faktisch an die Stelle eines Friedensvertrags zwischen den Siegermächten und den beiden deutschen Staaten trat, ohne ein Friedensvertrag zu sein; ein Friedensvertrag, der eben auch zu einem „neuen Versailles“ (Rudolf Augstein) hätte führen können. 

Die Tatsache, daß durch die Übereinkunft „das kleinste Deutschland der Geschichte“, um noch einmal Walters zu zitieren, in seinem territorialen Umfang festgeschrieben wurde, hat nur eine Minderheit geltend gemacht, die glaubte, es lasse sich der bis dahin verteidigte Rechtsstandpunkt in bezug auf die deutschen Grenzen von 1937 wirksam ins Spiel bringen. Faktisch bildete der Zwei-plus-Vier-Vertrag zusammen mit dem Einigungsvertrag die entscheidende rechtliche Grundlage für den Status der neuen, der „Berliner Republik“.

Foto: Die Außenminister James Baker (USA), Douglas Hurd (Großbritannien), Eduard Schewardnaze (Sowjetunion), Roland Dumas (Frankreich) bei der Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags mit DDR-Ministerpräsident Lothar de Maiziere und Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (v.l.n.r.) am 12. September 1990 in Moskau: „Das kleinste Deutschland der Geschichte“