© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/15 / 11. September 2015

Der „Menschismus“ – eine lebensfremde Ideologie
Völlig losgelöst
Peter Kuntze

Auch wenn es niemand laut und deutlich auszusprechen wagt – die Anzeichen sind seit Jahren weder zu überhören noch zu übersehen und schon gar nicht zu überlesen: Deutschland befindet sich im Bürgerkrieg, in einem (noch geistigen) Ringen um die Zukunft der Republik. Sogar die von offizieller Seite dekretierte Bestimmung des inneren Feindes läßt sich für jedermann exakt terminieren: Am 4. Oktober 2000 rief der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder zum „Aufstand der Anständigen“ auf, nachdem zwei Tage zuvor ein Brandanschlag auf die Synagoge in Düsseldorf verübt worden war.

Als Folge dieses Appells wurden in Bund, Ländern und Kommunen Lichterketten und Demonstrationen organisiert; die rot-grüne Bundesregierung entwarf ein Programm zur organisatorischen und finanziellen Unterstützung von Initiativen gegen „Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus“. Zwei Monate später stellte sich jedoch heraus, daß der Düsseldorfer Anschlag auf das Konto zweier Araber gegangen war, die den Tod eines Jungen rächen wollten, den israelische Soldaten im Gaza-Streifen erschossen hatten. Das Geständnis der beiden spielte indes keine Rolle mehr. Der „Kampf gegen Rechts“ (und nicht mehr nur gegen den Rechtsextremismus) entwickelte ein Eigenleben und hat in den vergangenen fünfzehn Jahren alle gesellschaftlichen Bereiche erfaßt.

Der „Mensch“, abstrahiert von seiner genetischen, ethnischen, geschichtlichen und soziokulturellen Herkunft sowie von sämtlichen Bezügen zu Gegenwart und Wirklichkeit, ist bloße Fiktion, eine Hülle ohne Inhalt, eine abstrakte Gattungsbezeichnung.

Doch was bedeutet „rechts“? Gegen welche Ideen, gegen welche Konzepte richtet sich der immer hysterischer anmutende Kampf? Ex negativo hat Josef Joffe, Herausgeber der Zeit, eine Antwort gegeben. Unter der Rubrik „Der Pfui-Faktor. Warum rechts hier keine Chance hat – siehe zuletzt die AfD“ erklärte er am 13. August dieses Jahres: „Deutschland lebt mit einem Bundestag, in dem hundert Prozent der Parlamentarier einen sozialdemokratischen Konsens von Tiefrot bis Zartrosa pflegen.“ Und Jürgen Habermas, ansonsten der Gottvater aller Linken und Linksliberalen, nahm die gesamte Journalistenzunft in Mithaftung für die bestürzende Einseitigkeit des politischen Diskurses: „Zur postdemokratischen Einschläferung der Öffentlichkeit trägt auch der Gestaltwandel der Presse zu einem betreuenden Journalismus bei, der sich Arm in Arm mit der politischen Klasse um das Wohlbefinden der Kunden kümmert“ (Süddeutsche Zeitung, 23. Juni 2015).

Rechts ist also, folgt man Joffe, mehr oder minder alles, was nicht links ist. Und was ist „links“? Eindeutig linke Postulate, die man jeden Tag lesen und hören kann, lauten: „Eine Schule für alle“, „Ehe für alle!“, „Asyl für alle!“, „Dresden (etc.) für alle!“, „Offene Grenzen für alle!“, „Kein Mensch ist illegal!“

Sicher täte man intelligenteren unter Linken und Linksliberalen unrecht, konfrontierte man sie einzig und allein mit derartigen Parolen. Doch anhand jener Forderungen läßt sich sehr wohl die große Zielrichtung linker Wunschvorstellungen erkennen: Es ist die Sehnsucht nach einer „besseren Welt“, nach einer Ordnung, in der es keine Hierarchien mehr gibt, kein Oben und kein Unten, in der jedem alles offensteht und sich alle von gleich zu gleich begegnen, in der jedem Respekt und Wertschätzung entgegengebracht werden und er/sie Teilhabe an allem hat, ohne daß nach Herkunft oder Leistung gefragt wird. Kurz, es ist der kommunistische Traum, die Utopie einer globalen Gemeinschaft ohne Klassen, ohne Grenzen und ohne Staaten, weil wir doch alle Menschen sind, die in einer Welt leben – gemäß der Werbebotschaft des Unternehmens Benetton von den „United colours“ in „One world“.

Angesichts der jüngsten Flüchtlingsströme hat sich diese scheinbar menschenfreundliche Vorstellung einmal mehr vehement Bahn gebrochen. Sie offenbart sich in den stets wiederholten Slogans „Vielfalt statt Einfalt“, „Bunt statt braun“, „Weltoffenheit und Toleranz“ und gipfelt in dem Ausruf: „Refugees welcome! – Willkommen bei Freunden!“ Die derart Angesprochenen werden dabei gleichsam als abstrakte Wesen imaginiert, weil vermieden wird, ihnen jene konkreten Eigenschaften zuzusprechen, die sie erst als lebendige Individuen konstituieren. Am treffendsten ließe sich diese Ideologie als „Menschismus“ charakterisieren – eine erfundene Vokabel, die indes den Vorzug hat, nicht deckungsgleich mit anders konnotierten Begriffen wie Humanismus, Humanitarismus oder Anthropozentrismus zu sein.

Ein typisches Beispiel war die Reaktion des Netzwerks „Refugees Welcome Saarland“ auf den brutalen Übergriff eines angetrunkenen syrischen Asylbewerbers auf einen 60jährigen Deutschen Anfang August. Auf ihrer Facebook-Seite warnte die Organisation vor Stereotypen und Vorurteilen: „Mit nichts ist solch eine Tat zu rechtfertigen. Aber sie ist auch absolut null auf einen Personenkreis zu beziehen, der sich ‘Flüchtling’ nennt.“ Straftaten würden nicht von „Schwarzen, Deutschen, Behinderten oder Flüchtlingen“ begangen, sondern von Menschen. „Und wie bei allen Menschen gibt es auch bei Flüchtlingen Nette, Blöde, Arschlöcher und tolle Typen und natürlich auch Gewalttätige.“

Hinter dieser These steht ein Menschenbild, das fern jeder Realität ist. In Abwandlung des berühmten Gastarbeiter-­Zitats von Max Frisch ließe sich sagen, die Eine-Welt-Ideologen rufen nach Menschen, aber es kommen Syrer, Kongolesen, Afghanen, Roma, Schiiten, Sunniten, Salafisten, Kopftuchträgerinnen, Verfechter von Blutrache, Ehrenmorden etc. Der „Mensch“, abstrahiert von seiner genetischen, ethnischen, geschichtlichen und soziokulturellen Herkunft sowie von sämtlichen Bezügen zu Gegenwart und Wirklichkeit, ist bloße Fiktion, eine Hülle ohne Inhalt, eine abstrakte Gattungsbezeichnung wie Tier oder Pflanze. Schon vor 200 Jahren erklärte der französische Staatsrechtler Joseph de Maistre, in seinem Leben habe er noch nie einen „Menschen“ getroffen, sondern stets nur Russen, Franzosen, Italiener oder Engländer.

Ein Gedankenkonstrukt ist auch die Vorstellung der einen Welt. In Wahrheit leben wir in vielfältigen globalen Räumen, geprägt durch unterschiedliche Landschaften, Klimazonen, Faunen, Floren, Religionen, Kulturen etc. Davon ließ sich auch Konfuzius leiten und ihn vor 2.500 Jahren zum Begründer eines realistischen Welt- und Menschenbildes werden: „Die Natur der Menschen läßt sie einander nah sein, doch die Gebräuche halten sie voneinander fern.“ Nichts – außer ihrem abstrakten „Menschsein“ – verbindet einen Eskimo mit einem Bantu, nichts einen Finnen mit einem Polynesier, kaum etwas einen Chinesen mit einem Venezolaner oder einen Norweger mit einem Sizilianer.

Ja, selbst im eigenen Land sind die Unterschiede zwischen einem nordfriesischen Küstenbewohner und einem Oberbayern aus dem Tegernseer Land gravierend. Töricht ist daher die oft in demagogischer Absicht aufgestellte Behauptung, Deutschland könne – jenseits der selbstverständlich aufzunehmenden Kriegsopfer – den Strom der Asylbewerber locker bewältigen, schließlich habe es nach 1945 sogar zwölf Millionen Vertriebene und Flüchtlinge integriert. Daß es sich bei ihnen um Landsleute, also um Menschen gleicher Zunge und gleicher Kultur, gehandelt hat, wird dabei unterschlagen – auch daß selbst jene Schlesier, Pommern und Ostpreußen keineswegs immer mit offenen Armen empfangen, sondern vielfach als „Polacken“ beschimpft wurden.

Doch die Vertreter des „Menschismus“ sind in ihrem Optimismus durch nichts zu erschüttern. Die Prognose, bis Jahresende rund 800.000 Flüchtlinge aufnehmen zu müssen, quittierte die Süddeutsche Zeitung mit einem Achselzucken: „Notstand? Ach was.“ Da in jedem Jahr etwa 200.000 Bewohner mehr sterben als geboren werden, brauche Deutschland Einwanderer – „und zwar Hunderttausende jedes Jahr“ (SZ, 19. August 2015).

Kurz zuvor hatte das Blatt seine bayerischen Leser bereits auf deren schöne Zukunft eingestimmt. Um sie sich auszumalen, reichten bereits die Überschriften: „Welcome dahoam – Weiß, blau, bunt: Angesichts der Zuwanderung gerät der zementierte Heimatbegriff der Bayern ins Wanken. Städte und Dörfer müssen sich dem Fremden öffnen und es als Bereicherung verstehen.“ Im Jahr 2024 würden 3,2 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Bayern leben, das sei ein Viertel der Bevölkerung. Der moderne Heimatbegriff dürfe daher keineswegs als Vehikel für eine „Mia-san-mia­-Mentalität“ dienen, die andere ausgrenze, nur weil sie keinen Einheimischen-Status hätten (Süddeutsche Zeitung, 1. August 2015). 

Marc Beise, Chef des Wirtschaftsressorts, wollte da mit guten Ratschlägen nicht zurückstehen. „Arbeitgeber, auf die Barrikaden!“ forderte er jene auf, die wegen des demographischen Niedergangs stets lautstark nach qualifizierten Arbeitskräften rufen: „Wo sind die leerstehenden Fabrikgebäude, die umgebaut werden – auf Kosten der Unternehmen? Wo die Ausbildungswege für Flüchtlinge, die man zum Abitur führt und ihnen das Studium bezahlt? Wo die Deutschkurse in den Betrieben für junge Leute, die später Lehrlinge werden sollen? Wo die Unternehmer in den Talkshows, die ‘Volkes Stimme’ widerstehen? Und die ihren deutschen Mitarbeitern erklären, warum im Interesse aller diesmal die Flüchtlinge vorgehen?“ Die Arbeitgeber, so Beise, könnten sich schon einmal darauf vorbereiten, daß sie bald auf die Barrikaden müssen, um für eine stärkere Wirtschaft zu kämpfen – „aber auch für eine bessere Welt“ (Süddeutsche Zeitung, 1. August 2015).

Ob man es „Umvolkung“ oder den „Großen Austausch“ nennt, ist irrelevant – im Ergebnis läuft alles darauf hinaus, daß sich die Deutschen mittelfristig im eigenen Land als vorerst noch größte Minderheit unter anderen Minderheiten wiederfinden werden.

Ähnlich wie in der Bildungspolitik (Einheitsschule, Inklusion) und der künstlich erzeugten Geschlechter-Frage (Homo-„Ehe“, Gender Mainstreaming), wo Ungleiches gleich behandelt wird, postuliert das bundesdeutsche Toleranz-Edikt auch bei der illegalen Einwanderung durch Verleugnung des Eigenen die gleiche Gültigkeit des Anderen und gibt diesen Nihilismus als „Weltoffenheit“ aus. Während die „Zartrosa“-Fraktion, um bei Joffes eingangs zitierter Diktion zu bleiben, dem verhängnisvollen Treiben hilf- und ratlos zuschaut, zielen die „Tiefroten“ seit jeher auf die Abschaffung Deutschlands als Nationalstaat und das Aufgehen des eigenen Volkes in einer multiethnischen und multikulturellen „Bevölkerung“. Sie rekrutieren sich aus der Partei Die Linke und grünen Fundamentalisten, die schon vor Jahrzehnten ihre antinationale Gesinnung kundtaten mit dem Stoßseufzer: „Ausländer, laßt uns mit diesen Deutschen nicht allein!“ Ihre rassistischen Volksverhetzungsparolen „Deutschland verrecke!“, „Nie wieder Deutschland!“ oder „Fuck Germany!“ sind noch nie strafrechtlich geahndet worden.

Ob man es „Umvolkung“ oder den „Großen Austausch“ nennt, ist irrelevant – im Ergebnis läuft alles darauf hinaus, daß sich die autochthonen Deutschen mittelfristig im eigenen Land als (vorerst noch größte) Minderheit unter anderen Minderheiten wiederfinden werden. In seiner Tragödie „Die Schutzflehenden“ läßt Aischylos den König von Argos sagen, niemals solle sein Volk über ihn das Urteil fällen müssen: „Landfremde ehrtest, / Eignes Land verheertest du.“ Daß auch das „deutsche Volk“, laut Grundgesetz der Souverän des Staates, über sein eigenes Schicksal wird bestimmen können, darf freilich bezweifelt werden.






Peter Kuntze, Jahrgang 1941, war Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Ergebnisse der Pegida-Bewegung („Die Tabus bröckeln“,      JF 10/15).