© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/15 / 11. September 2015

Pankraz,
Cecile DenJean und der kluge Bauch

Die gegenwärtigen Zeitläufte, besonders in der Politik, legen den Gedanken nahe, daß der moderne Mensch (siehe Euro-Rettung, siehe neue Völkerwanderung), aller Gehirnforschung zum Trotz, über gar kein Gehirn mehr verfügt. Aber gerade jetzt lernen wir dank der jungen französischen Filmregisseurin Cecile DenJean, daß dieser Mensch nicht nur über ein einziges Gehirn, sondern sogar über deren zwei verfügt. Das eine ist im Kopf untergebracht, das andere im Bauch. „Der kluge Bauch“ heißt denn auch C. DenJeans neuer Streifen, der vorige Woche auf Arte zu sehen war.

An sich ist der Fall nicht allzu neu. Schon vor gut fünfzehn Jahren veröffentlichte der amerkanische Neurobiologe Michael Gershon sein Buch „The Second Brain“ („Das zweite Gehirn“); Pankraz hat damals ausführlich darüber berichtet und dabei, vielleicht etwas voreilig, einige Zweifel an Gershons Theorien angemeldet. Würden hier nicht, so fragte er, schlichte Selbstverständlichkeiten zu Sensationen aufgeblasen? Sei also Gershons Buch nicht eher ein bloßes Medienereignis statt ein  echt wissenschaftliches?

Schließlich wisse doch jeder, daß es „Bauchgefühle“ gebe. Und die sprichwörtliche Warnung, „nicht mit dem Bauch zu denken“, stamme ja keineswegs von schlechten Eltern. Die ehrwürdigen asiatischen Weisheitslehren, Konfuzianismus und Zen-Buddhismus, dekretierten schon seit Olims Zeiten, daß wesentliche Antriebe, die die Seele füllen, nicht aus dem Kopf, sondern aus dem Bauch stammen, aus dessen „Sonnengeflecht“, wie es bei den Japanern heißt. Die elementaren Bedürfnisse des Bauches, Hunger und Durst, bedürften in dieser Sicht der „Schaltzentralen“ im Kopf gar nicht, um gestillt zu werden.

Und solch machtvolle „Bauchgefühle“ wie Angst oder stürmische Freude würden ebenfalls nicht zentral geschaltet, sondern „überschwemmten“ Leib und Seele jeweils, ohne daß ein Gehirnprozessor etwas dagegen machen könnte. Der Mensch sei nun mal keine leere Gehirnmaschine mit einigen unwesentlichen Anhängseln und Fortsätzen, sondern im Gegenteil: Das Gehirn sei ein Anhängsel des „ganzen“ Menschen, eine Art Generator oder Dynamo für das Individuum, der also von diesem benutzt werde (statt seinerseits das Individuum zu benutzen).

Cecile DenJeans Film nun bekräftigt zwar die vom leibgei-stigen Standpunkt aus geübte Kritik an der Kopfdominanz, wertet aber die Rolle des „klugen Bauches“ derart auf, daß man bei ihr fast von einer Bauchdominanz sprechen muß. Und sie läßt dabei eine derartige Phalanx von seriösen, auch im staatlich geförderten Wissenschaftsbetrieb fest etablierten Neurologen und Bakteriologen antreten, daß es selbst dem verbissensten Gehirnforscher schwerfallen dürfte, gute Experimente und Theorien dagegen aufzubieten. Ein richtiger innerwissenschaftlicher Paradigmenwechsel scheint sich anzubahnen.

Im Darm, an den Darmwänden und in den anderen Bauch-organen, so erfahren wir, ist eine derart astronomische Menge von Nervenzellen lebendig, daß die Anzahl der geschätzten Synapsen im Gehirn dagegen regelrecht verblaßt. Milliarden und Billionen. Die in dem Film auftretenden Gelehrten waren sich einig: Das „entelische Nervensystem“, also das Bauchnervensystem, ist dem Synapsensystem im Kopfgehirn quantitativ haushoch überlegen, und was seine „Qualität“, seine Macht über den Körper, betrifft, dem Kopfgehirn ebenbürtig.

Hinzu treten dann noch die Aberbillionen von Bakterien, die sich um diese Nervenzellen gruppieren und die, um ihre eigenen Geschäfte, Ernährung und Vermehrung, zu betreiben, aufs engste mit ihnen verknüpft sind. „Wir wissen nicht und werden wohl nie wissen“, meint Frau DenJean, „wer nun eigentlich wen versorgt, die Bakterien den menschlichen Körper oder der Körper die Bakterien.“ Es könnte gut sein, daß die Schöpfung nicht den Menschen, sondern die Bakterien als Ziel im Visier gehabt hat. Vielleicht sind wir nichts weiter als ein Heuhaufen zum Futter für die Bakterien.

Ein gelernter Bakteriologe in dem Film formulierte es ähnlich: „Was weiß die Wissenschaft denn wirklich über die Verbindung zwischen Bauch und Kopf? Wer bestimmt, wie sich ein Mensch verhält? Sein Bewußtsein oder Milliarden von Bakterien in seinem Bauch? Aufregung schlägt auf den Magen, Verliebte haben Schmetterlinge im Bauch, Unangenehmes liegt schwer im Magen, und manchmal treffen wir Entscheidungen aus dem Bauch heraus: Wir spüren oft ganz deutlich, daß unser Gehirn nicht allein unser Handeln und Fühlen kontrolliert.“

Trotzdem war die Gesamtstimmung des Films keineswegs kulturpessimistisch. „Es wird uns peu à peu gelingen, den ständigen Dialog zwischen den beiden Steuerzentralen Bauch und Kopf zu entziffern“, hieß es immer wieder. „Die dabei gewonnenen Erkenntnisse bieten uns ungeahnte therapeutische Möglichkeiten. Im Takt mit der Erforschung des klugen Bauches, des zweiten Gehirns, setzt sich unter den Forschern  jedenfalls schon jetzt die Überzeugung durch, daß das Gehirn im Kopf nicht der einzige Kapitän an Bord ist.“

Pankraz seinerseits bleibt skeptisch, wie er damals auch gegenüber der Begeisterung für das angeblich souverän und exklusiv entscheidende Kopfgehirn skeptisch geblieben ist. Ihm wäre heute, ehrlich gesagt, lieber, wenn allerseits weniger modernes Bauchgehirn und dafür mehr klassisches Kopfgehirn zum Zuge käme. Aber vielleicht geht es inzwischen gar nicht mehr um Kopf oder Bauch, sondern die Entscheidungskompetenz liegt bei tieferliegenden und rückwärtigeren Körperregionen!

Es gibt ja auch die Theorie  (Bert Leston Taylor u.a,), daß man mit dem Hintern „denken“ kann, wie das einst die Riesendinosaurier in der Kreidezeit getan hätten. Diese hatten ein winziges Kopfgehirn mit wenigen Synapsen gehabt, aber dafür ein riesiges Hinterteil, in dem einige Paläontologen das „eigentliche“ Gehirn vermuten und nach Beweisen dafür suchen. Die Tiere sind freilich bald danach ausgestorben.