© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/15 / 11. September 2015

Nur Orbán sorgt sich um die Identität
Reportage aus Budapest: Tausende gehen, Tausende kommen / Notgesetze sollen Zuwanderung steuern
Billy Six

Land unter in Ungarns Hauptstadt. „Hilf uns, Angela Merkel – SOS“, steht als englische Kreidenachricht an einer Wand geschrieben. Etwas weiter sitzt ein junger Mann mit fehlendem Bein. Sein Begehren, mit Schreibfehler auf ein Pappschild gekritzelt: „Ich gehe Deutschland. Ich Behandlung. Ich liebe Dich, Deutschland.“ Daß die Bundesrepublik teure Operationen bezahle, ist ein in der arabischen Welt populäres Gerücht. 

Seit Tagen durchlebt Keleti, der Budapester Ostbahnhof, eine Überflutung mit 2.000 bis 4.000 Migranten pro Tag, die sich auf dem Weg nach Deutschland befinden. Die Regierung hatte zwar alle Züge Richtung Österreich gestoppt, nachdem sich immer mehr Zuwanderer um die Plätze gedrängelt hatten. Doch es war ein kurzes Intermezzo.  Die Züge und Busse rollen ohne Komplikationen von Ungarn via Österreich nach München. Auf dem Parkplatz des Ernst-Happel-Stadions am Wiener Prater trafen sich Aktivisten – viele aus Deutschland –, um im Rahmen ihrer Initiative „Schienenersatzverkehr“ und im Konvoi die Zuwanderer über die ungarisch-österreichische Grenze zu bringen.

Deutschlands offizielle Ankündigung, „syrische Kriegsflüchtlinge“ entgegen der Dublin-Regeln nicht mehr in das Land des EU-Erstzugangs zurückzuschicken, hat Disziplin und Gesetzesmoral nicht verstärkt. Das Gegenteil ist der Fall: Immer mehr Migranten kommen in Budapest an oder machen sich mit Taxis direkt auf den Weg in die Hauptstadt, nachdem sie den neuen Stacheldraht-zaun zu Serbien durchkrochen haben. 

Rufmord gegen den ungarischen Staat

Wer von der Polizei gestellt wird, verhält sich zunehmend aggressiv. Behauptet wird jedoch immer wieder, es seien die ungarischen Beamten, welche „die Flüchtlinge mißhandeln“ würden. Doch selbst Tibor Rácz, regierungskritischer linker Investigativjournalist der Wochenzeitschrift HVG, konnte dafür bisher keine Belege finden. Er bestätigt, daß die ungarischen Lager Trinken, Essen und Duschen bereitstellten. Das Problem sei im Moment, daß es „nicht so viel Platz“ gebe. „Sie denken, in Deutschland ist es besser, und sie haben recht“, so Rácz gegenüber der JUNGEN FREIHEIT, und kritisiert seine Regierung, daß ausschließlich Freiwillige die Massen am Bahnhof mit Spenden versorgen würden. Von Mangel könne jedoch keine Rede sein. 

Das liegt auch an den Aktivitäten der „Ungarisch-Islamischen Gemeinschaft“. Scheich Ahmed, ein Konvertit, spricht von einer „sehr schrecklichen Lage“ für die Muslime; in den Lagern gäbe es angeblich keine Nahrung. Zu den Motiven der Weiterreise seiner „Brüder und Schwestern“ sagt er: „Sie wollen nach Westeuropa. Ungarn hat nichts. Keine Arbeit, die Sprache ist schwer, die Regierung mag sie nicht.“ 

Tatsächlich kritisiere man, daß es sich „hauptsächlich um Wirtschaftsmigranten“ handele, so Regierungssprecher Zoltán Kovács gegenüber der JF. Regierungschef Orbán tat unlängst mehrfach kund, sich um die Identität Ungarns und Europas zu sorgen. Im österreichischen Fernsehen legte er nach: „Solange Österreich und Deutschland nicht klar sagen, daß sie keine weiteren Migranten mehr aufnehmen, solange werden mehrere Millionen neuer Einwanderer nach Europa kommen.“ Dafür wird er von deutschen Medien gescholten: „Dumm, dreist, Orbán“, titelte Spiegel Online. 

Für den 52jährigen studierten Juristen und fünffachen Familienvater sind entsprechende Angriffe nicht neu. Bereits seine Argumentation gegen eine Nato-Intervention in Libyen beim EU-Sondergipfel vom 11. März 2011 war nicht auf Gegenliebe gestoßen. Orbáns damalige Zweifel: „Wird die südlich von uns gelegene Welt demokratischer werden, wird die Flüchtlingswelle anhalten, und werden die arabischen Länder dazu imstande sein, ihre eigenen Söhne zu Hause, in ihrer Heimat zu behalten?“

 Notgesetze des Reichstags erlauben nun ab 15. September den Einsatz der Armee an der Außengrenze sowie die Inhaftierung illegaler Einwanderer. Mit den laut islamischer Gemeinde 40.000 bis 50.000 in Ungarn beheimateten Muslimen wolle man jedoch friedlich zusammenleben, so Orbán bei einer Pressekonferenz, sie stellten in Ungarn eine unauffällige und zurückhaltende Minderheit dar. 

Ausgerechnet die völkisch-nationale Jobbik, die einzige pro-islamische Rechtspartei innerhalb der EU, wurde nun vom ungarischen Imam István Kovács in einer Fatwa für „haram“, also verboten, erklärt. Jobbik-Veteranen hatten mit symbolischen Aufmärschen an der Südgrenze gegen Einwanderung demonstriert. Unter dem Eindruck der Völkerwanderung bricht nun das alte Bündnis nationalistischer Turanisten und muslimischer Magyaren auseinander. Dabei war es der katholische Jobbik-Chef Vona Gábor, der den Islam als „die letzte Hoffnung der Menschheit inmitten der Düsternis der Globalisierung und des Liberalismus“ bezeichnet hatte. Und: „Falls der Islam scheitert, werden die Lichter komplett ausgehen.“ 

Während die Nationalisten ihre muslimischen Verbündeten verlieren, ziehen Orbáns Konservative rechts vorbei – und hoffen, den Zerfall an öffentlicher Zustimmung aufzuhalten. In Umfragen ringt Orbáns Fidesz, die bis Anfang des Jahres über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament verfügte, mit der 40-Prozent-Marke. 

Rechtsextreme Jobbik setzt Orbán unter Druck 

Jobbik kommt auf Werte zwischen 20 und 30 Prozent und plant die Machtübernahme für 2018. In Vecsés, einem Budapester Vorort, schimpfen ihre Anhänger auf Orbán als „abnormalen Schwindler und Zigeuner“. Die Mehrheit der Ungarn ist gegen Zuwanderung und die EU eingestellt. Hinzu kommt der Frust über niedrige Löhne und Korruption.

„Ich weiß nicht, aber Freunde sagten, in Deutschland ist es besser“, so der junge Syrer Ahmed auf die Frage, warum er nicht in der Donaurepublik bleiben wolle. Es seien türkische Hotelbetreiber gewesen, die ihm verbotenerweise ohne Papiere ein Zimmer vermietet hätten. Illegale Müllentsorgung habe die Polizei auf den Plan gerufen – und zur Schließung der Unterkunft geführt. Er war einer von denen, die festsaßen – und mit „der Mafia“ für den privaten Transport nach Deutschland verhandelten. 600 Euro kostete dies vor Angela Merkels Grenzöffnung. Das junge Geschwisterpaar Hadeel und Kaldon aus Damaskus nutzte den Service. Der Fahrer – ein Syrer.

Fotos: Ostbahnhof Budapest: 2.000 bis 4.000 Zuwanderer treffen hier täglich ein und werden notdürftig versorgt; Wandschmierereien am Ostbahnhof: Angela Merkel soll es richten